NACH GRIECHENLAND 407
fernen Punkt am Horizont Korsika erblicken konnte, holte ich mein Buch
hervor und suchte in dieser Umgebung bei solcher Aussicht doppelt gern
Belehrung bei so erfahrenen Männern wie Montesquieu, Vauvenargues und
La Rochefoucauld. Als ich in jener Zeit auf dem Corso von San Remo
schlenderte, ahnte ich nicht, daß diese Straße zwölf Jahre später die Via
dolorosa für unsern lieben Kaiser Friedrich werden sollte, daß er hier
grausame körperliche Leiden und, schlimmer als das, unsägliche seelische
Qualen erdulden sollte. Und mit ihm sollte Deutschland leiden, dem dieser
edle, verständige Fürst zu früh, viel zu früh entrissen wurde.
Mit den Kurgästen von San Remo verkehrte ich wenig, wie ich auch in
früheren Zeiten mich bei Reisen selten an andere anschloß. Die einzige
Ausnahme, die ich in San Remo machte, war für ein zwölf- oder dreizehn-
jähriges, verwachsenes und kränkliches Mädchen, um das sich niemand
kümmerte als seine selbst leidenden und sehr bescheidenen Eltern. Ich lehrte
das Kind das Dame-Spiel und spielte abends im Lesezimmer mit ihr. Ich
erzählte ihr auch Märchen, abwechselnd orientalische, phantastische
Märchen und liebe deutsche Kinder- und Hausmärchen der Gebrüder
Grimm. Wenn ich das Lesezimmer betrat, blickte mir das Kind mit großen,
erwartungsvollen Augen entgegen, wenn ich ihr Gutenacht sagte, machte
sie einen kleinen Knix und schien sehr betrübt. |
Als ich Mitte Dezember von der Madonna della Guardia in mein Hotel
zurückkehrte, fand ich einen Brief meines Vaters, der mir meine Versetzung
nach Athen ankündigte. Es hieß in diesem Brief, der kaiserliche Gesandte
in Athen, Herr von Radowitz, sei für längere Zeit in das Auswärtige Amt
als Hilfsarbeiter berufen worden; der Sekretär der Gesandtschaft, Herr von
Hirschfeld, müsse nach Konstantinopel versetzt werden, wo durch die
von uns übernommene Vertretung der russischen Interessen eine Ver-
stärkung des Personals notwendig geworden sei. Ich möge mich un-
verzüglich nach Athen begeben, um dort die Leitung der Mission zu über-
nehmen. Gütig und weise wie immer fügte mein Vater hinzu, es sei für meine
dienstliche Ausbildung nützlich, schon in jungen Jahren selbständig eine
Mission zu leiten. Die weitere Haltung des bisher neutral gebliebenen
griechischen Königreichs und des von Athen beeinflußten hellenischen
Elements im Türkischen Reich sei für den Ausgang des Russisch-Türkischen
Krieges nicht ohne Bedeutung. Ich fände Gelegenheit, interessante Berichte
zu schreiben. Ich möge die Augen auf- und die Nerven zusammenbalten.
Toujours en vedette, aber ohne exc&s de zele, damit er „wieder“ mit mir
zufrieden sein könne. Mein Vater, der niemals ausschließlich in Politik
aufgegangen war, betonte in diesem Brief an mich, er hoffe und erwarte,
daß der Aufenthalt in Athen für meine weitere geistige Entwicklung und
für meine allgemeine Bildung förderlich sein werde. Er erinnerte den jungen
Versetzung
nach Athen