DER CUL DE PARIS 419
liegt. Sie war inzwischen fast ein halbes Jahrhundert älter geworden. Ihr
Gemahl, der König Georg von Griechenland, war zehn Jahre früher in
Saloniki ermordet worden. Ihr Sohn, der König Konstantin, wurde ent-
thront und starb in der Verbannung. Ihr Enkel, der König Alexander, war
in Tatoi eines rätselhaften Todes gestorben. Alle ihre griechischen Ver-
wandten waren vertrieben oder tot. Ihren russischen Verwandten war es
nicht besser ergangen. Vor mir stand eine ganz gebrochene Frau. Mit
Wehmut erinnerte sie sich der glücklicheren Vergangenheit. Sie erzählte
mir, ich hätte als Geschäftsträger in Athen noch so jung ausgesehen, daß
man mich „das Kind“ genannt habe. Ich mußte ihr erwidern, daß ich in-
zwischen leider ein recht altes Kind geworden sei. Der Zusammenbruch
des Zarenthrons war ihr näher gegangen als der Sturz der griechischen
Dynastie. Die Stellung der letzteren hatte sie immer für ziemlich prekär
gehalten. An die Unerschütterlichkeit des Zarenthrons hatte sie geglaubt
wie an das Evangelium.
Im Diplomatischen Korps waren mir der englische Gesandte, der
Hon. Stuart, und sein Sekretär Mr. Wyndham die Sympathischsten,
wie ich überhaupt auf allen Posten am liebsten mit meinen englischen
Kollegen verkehrt habe. Für den persönlichen Umgang, für sichere Freund-
schaft ziehe ich den Engländer jedem andern Fremden vor. Er ist zuver-
lässig, er hat gute Formen, er hat Takt. Der russische Gesandte Saburow
war ein echter Slawe, geistreich, gewandt, verlogen, ganz unzuverlässig.
„Il ment quand il ouvre la bouche“, meinte Mr. Stuart von ihm. Er war
mit einer Deutschen verheiratet, einer Gräfin Vitzthum, die durch und durch
ehrlich, tugendhaft, aufrichtig, kurz eine Perfektion war. ‚‚C’est la vertu
dans toute son horreur“, pflegte er von ihr zu sagen. Es amüsierte ihn, sie,
die immer noch in ihn verliebt war, wo und wie er konnte, zu ärgern. Bei
Diners ließ er ein großes Blumenarrangement zwischen sich und seine Gattin
auf den Tisch stellen, damit er ihr langweiliges Gesicht nicht vor sich sehe.
Er setzte auch gern als Röti auf die Menükarte: Dinde a l’Ambassa-
drice und ließ keinen Zweifel darüber, welche Ambassadrice ihn an die
Pute erinnere. Natürlich nahm er es mit der ehelichen Treue nicht genau.
Es gelang ihm, das Herz der Gattin des italienischen Konsuls im Piräus zu
erobern. Die Frauen trugen damals, was die Franzosen „un cul de Paris“,
die Berliner einen „Puff“ nannten. Unter diesen Puff der von ihm ange-
beteten Konsulin steckte Saburow die Liebesbriefe, die er an sie richtete.
Eines Tages holte der Konsul eine feurige Liebeserklärung des Gesandten
aus diesem eigenartigen Briefkasten hervor. Es kam zu einem Duell, bei
dem der Gesandte von dem mit Recht erzürnten Konsul durch den Arm
geschossen wurde. Saburow hat später Karriere gemacht. Er wurde rus-
sischer Botschafter in Berlin. Bismarck erkannte aber bald seine Unzuver-
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Die fremden
Vertreter