Das
Frankfurter
Gymnasium
26 EIN RÜCKSCHLAG
Bund zu flechten ist und daß das Unglück schnell schreite, ist nicht nur eine
poetische Wendung in Schillers Glocke, das lehrt die Geschichte.
Im Herbst 1861 wurde ich mit meinem Bruder Adolf, mit dem ich allen
Unterricht gemeinsam erhalten hatte, der Quarta des Frankfurter Gym-
nasiums anvertraut. Als ich zum erstenmal meinen Platz in der Schule ein-
nahm, legte ich nicht ohne Stolz die schöne Büchermappe auf den Tisch,
die mir meine Eltern für diesen feierlichen Augenblick geschenkt hatten.
Auf der Mappe stand in goldenen Lettern „B. B.““ (Bernhard Bülow). Der
neben mir sitzende Knabe hatte gleichfalls eine schöne Mappe, auf der ein
„EH“ neben einem „B“ stand. Er hieß Hugo Bethmann, ist ein Menschen-
alter später nach Paris ausgewandert, ließ sich dort naturalisieren und ver-
wandelte sich mit dem Mangel an Nationalstolz, der leider nur zu oft den
Deutschen verunziert, in einen chauvinistischen Franzosen. Seine Söhne
fochten im Weltkrieg gegen uns.
Bald nachdem ich in die Oberquarta des Frankfurter Gymnasiums auf-
genommen worden war, mußte ich zum erstenmal erfahren, wie nah der
Tarpejische Felsen dem Kapitol liegt. Einmal in der Woche wurde uns ein
Extemporale diktiert, und je nach seinem Ausfall wurden die Schüler
gesetzt. Bei dem ersten Extemporale, das ich zu schreiben hatte, wurde ich
Dritter und war stolz wie ein Pfau. Das zweite Extemporale, acht Tage
später, mißglückte, und ich mußte auf den 17. oder 18. Platz herunter-
rücken. O jerum, jerum, jerum, o quae mutatio rerum. Ich entsinne mich
nicht, in meinem weiteren Leben eine ähnliche Enttäuschung, einen so
bitteren Verdruß empfunden zu haben. Spätere Rückschläge in meiner
Karriere haben mich viel gleichgültiger gelassen. Wohl ein Beweis, wie
empfindlich das Selbstgefühl und das Seelenleben der Kindheit ist und daß
es geschont werden muß. „Maxima debetur puero reverentia‘“ ist ein weises
Wort des Satirikers Juvenal. Um nicht zu früh wieder im Elternhause ein-
zutreffen, nahm ich meinen Weg vom Gymnasium nach der Neuen Mainzer
Straße nicht durch die engen und krummen Gassen und Gäßchen der alten
Stadt, sondern längs dem Main und durch die Schöne Aussicht. Sehr melan-
cholisch blickte ich auf die braungelbe Flut des Mains und die weiß-
glänzende, stattliche Häuserreihe der Schönen Aussicht, auf die alte, ehr-
würdige, heute leider abgerissene Brücke mit dem Standbild des großen
Karl und dem „Gickel‘“, einem vergoldeten Hahn, dem Wahrzeichen der
Stadt Frankfurt. Wenn mich der selige Arthur Schopenhauer, der an der
Schönen Aussicht wohnte, beobachtet hätte, würde er mich dazu beglück-
wünscht haben, daß ich auf diese Weise rechtzeitig zur Erkenntnis der Un-
beständigkeit alles Irdischen und dadurch zu einem ruhigen Einblick in den
Weltlauf und das Weltganze gelangen könne. Als ich endlich nach langem
Zögern zu Hause eintraf und mein Mißgeschick dem Vater berichtete,