Full text: Bernhard Fürst von Bülow - Denkwürdigkeiten. Vierter Band. Jugend- und Diplomatenjahre. (4)

DIE ATTENTATE AUF WILHELM I. 433 
unternahm, hatte ein elender Bube, der Klempnergeselle Hödel aus 
Leipzig, aus einem Revolver auf ihn gefeuert. Der erste Schuß war fehl- 
gegangen, ebenso der zweite, den der Mörder fliehend auf das ihn verfol- 
gende Publikum abgegeben hatte. Vor Gericht gestellt, hatte Hödel ein 
widerliches Gemisch von zynischer Frechheit und feiger Verlogenheit an 
den Tag gelegt. Drei Wochen später waren gegen das geheiligte Haupt des 
Kaisers wieder Schüsse abgegeben worden, und diesmal sollten sie treffen. 
Der edle Greis, der keine Furcht kannte, hatte an einem Sonntag, dem 
2. Juni, wie alle Tage seine Fahrt nach dem Tiergarten unternommen. Er 
fuhr im offenen Wagen, nach allen Seiten freundlich grüßend, dem Branden- 
burger Tor zu, durch das dreimal die von ihm ausgebildete Armee siegreich 
eingezogen war. Da brach er plötzlich blutüberströmt zusammen. Aus dem 
Fenster eines Hauses Unter den Linden waren rasch hintereinander aus 
einer doppelläufigen Flinte mit Schrot zwei wohlgezielte Schüsse auf ihn 
abgegeben worden, die Kopf, Schultern, beide Arme und die rechte Hand 
getroffen hatten. Wie während seines ganzen Lebens hatte der Kaiser auch 
jetzt nicht die Haltung verloren. Wahrhaft groß in seiner würdigen Ruhe, 
kehrte er, von seinem Leibjäger gestützt, in sein Palais zurück. Die rasch 
herbeigerufenen Ärzte, an ihrer Spitze der große Chirurg Bernhard von 
Langenbeck, der, um keine Minute zu verlieren, wie er war, in Pantoffeln 
im Palais erschien, erklärten es für sehr zweifelhaft, ob es ihrer Kunst ge- 
lingen würde, den einundachtzigjährigen Greis am Leben zu erhalten. Mehr 
als dreißig Schrotkörner mußten ihm nach und nach zum Teil an gefähr- 
lichen Stellen ausgeschnitten werden. Hätte der Kaiser statt des Helmes, 
den er, pflichttreu im Kleinen wie im Großen, am Sonntag vorschriftsmäßig 
aufgesetzt hatte, die Mütze getragen, so war er dem Tode verfallen. Nur 
der Helm hatte die Wucht der das Haupt treffenden Schrotkörner ab- 
geschwächt. 
Eine große Welle der Empörung, der Scham und des Zornes ging 
durch das deutsche Volk. Unmittelbar nach dem Attentat hatte das er- 
bitterte Publikum den Attentäter Nobiling in Stücke reißen wollen. Das 
wäre ihm auch gelungen, wenn nicht die brave Schutzmannschaft mit 
eigener Lebensgefahr die andrängende Menge zurückgedrängt hätte. War 
Hödel ein verlotterter Sohn des Lumpenproletariats, so betrat mit Dr. Karl 
Nobiling ein Intellektueller die Bühne. Er hatte sich früh der sozialdemo- 
kratischen Partei zugewandt, die gerade auf Unreife und Halbgebildete 
eine starke Anziehungskraft ausübte. Hätte er zur Zeit der großen Fran- 
zösischen Revolution gelebt, so würde er sich den Hebertisten ange- 
schlossen, als Mitglied der Pariser Kommune seinen Platz zwischen Raoul 
Rigault und Theophile Ferr& eingenommen haben. Noch später hätte er in 
Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg Geistesverwandte erkannt. 
28 Bülow IV
	        
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