Auflösung
des Reichstags
434 DER ALTE KAISER
In ganz Deutschland war nach den Schandtaten vom Frühling 1878
die Empörung tief und allgemein. Erregt wie nie seit den Tagen des
Deutsch-Französischen Krieges war die Seele des Volkes, und auch in der
Folge sah ich nie einen derartig stürmischen und zornigen Aufruhr der
Gefühle. Die Stimmung war eine ganz andere als ein Menschenalter später
nach den Attentaten auf Eisner, Haase, Erzberger, Rathenau. Gewiß, jeder
Mordanschlag ist und bleibt verwerflich. Kein rechtlich Denkender wird
den politischen Mord entschuldigen oder gar billigen. Kein menschlich
Empfindender wird dem Opfer eines politischen Mordes seine Teilnahme
verweigern. Aber Eisner und Erzberger, Haase und Rathenau, oder
wenigstens die drei Erstgenannten, waren schwankende Gestalten der
Revolutionsära. Keiner von ihnen hatte eine ernstliche Leistung aufzu-
weisen. In hundert, vielleicht schon in fünfzig Jahren wird ihr Andenken
versunken und vergessen sein. Kaiser Wilhelm I., der alte Kaiser, wird
im Herzen des deutschen Volkes fortleben wie Karl der Große und
Friedrich der Rotbart, denn er verkörpert die schönste, stolzeste, ruhm-
vollste und glücklichste Zeit, die unserem Volk seit dem Mittelalter be-
schieden war. Und was seine menschlichen Eigenschaften angeht, so
wüßte ich nichts so Rührendes und dabei so Edles wie die Worte, die
der alte Herr nach seiner Wiederherstellung am 7. Dezember 1878 beim
Empfang des Magistrats und der Stadtverordneten von Berlin sprach:
„Die Vorsehung ließ es zu, daß mich Schweres traf. In meiner Errettung
erblicke ich die Mahnung, mich zu prüfen, ob ich meinen Lebenslauf so
eingerichtet, meine Pflichten so erfüllt habe, daß ich wert war, gerettet
zu werden.“
Es war in der Ordnung, daß Bismarck die durch die Attentate hervor-
gerufene Stimmung benutzte, um den Reichstag aufzulösen und Neuwahlen
auszuschreiben. Diese verschafften den Konservativen und den Frei-
konservativen in vielen Wahlkreisen Erfolge über die Freisinnigen und den
linken Flügel der Nationalliberalen. Mit dem scharfen Blick des Genius, der
früh sieht, was dem bloßen Talent, geschweige denn dem ‚‚profanum vulgus“,
der blöden Menge verborgen bleibt, hatte Bismarck schon um die Mitte der
siebziger Jahre die Hohlheit der marxistischen Lehre und vor allem ihre
besondere Gefährlichkeit für Deutschland erkannt. Bei der Neigung der
Deutschen zu theoretischem Denken, ihrer oft verstiegenen Ideologie,
ihrem schwachen Nationalgefühl glaubten die deutschen Arbeiter ehrlich
an die marxistische Lehre vom Klassenkampf und von der Solidarität der
internationalen Arbeiterinteressen, der alle anderen Pflichten und Rück-
sichten unterzuordnen wären. Franzosen, Engländer und Italiener akzep-
tierten die marxistische Lehre, wenn sie sich ihren starren und engen Ge-
boten überhaupt unterwarfen, mit dem stillen Vorbehalt, daß das Interesse