DAS GENIE LÄSST SICH NICHT KOPIEREN 499
in acht oder neun Jahren. Aber jetzt bist du noch nicht tanti. Du hast ja
auch, wie du mir oft gesagt hast, keine Lust, in das Auswärtige Amt ein-
berufen zu werden. Ich werde dich als Zweiten Sekretär nach Paris schicken.
Bismarck ist damit einverstanden, und du paßt gut nach Paris. Sage aber
vorläufig davon nichts zu Holstein, der dich, wie mir vorkommt, nicht in
Paris haben möchte.‘ Holstein kam noch einige Male auf seinen Plan
zurück, ich ließ ihn abfallen.
Wenn mein Vater mir verständigerweise nicht jetzt schon und dauernd
das orientalische Dezernat übertragen wollte, dem ich noch nicht ge-
wachsen war, so beschäftigte er mich dafür während der drei Monate nach
dem Auseinandergehen des Kongresses der Reihe nach in allen Dezernaten
der Politischen Abteilung des Auswärtigen Amtes, was für meine Aus-
bildung sehr nützlich war. Ich mußte tüchtig arbeiten und benutzte auch
die Zeit fleißig zum Aktenlesen, um nach Möglichkeit in Ziele und Art der
Bismarckschen Politik einzudringen. „Das Genie läßt sich nicht kopieren“,
sagte mein Vater oft zu mir. „Nichts wäre törichter, als Bismarck nach-
machen zu wollen. Aber, was man von ihm lernen kann, ist der Blick für die
Realitäten in der Politik, die Verachtung für die Theorie, die uns Deutschen
seit jeher so teuer ist. Auch von der wissenschaftlichen Methode, die in
Deutschland vielfach empfohlen wird, mag Bismarck nichts hören. Ihm ist
die Politik nicht eine Wissenschaft, sondern eine Kunst. Lerne von unserm
großen Bismarck vor allem und für dein ganzes Leben die Gewissenhaftig-
keit im Großen wie im Kleinen, die Vorsicht, das Abwägen, den leiden-
schaftlichen, unbeirrbaren Patriotismus, die unerschütterliche Anhänglich-
keit an Preußen, an das Deutschtum, an die Monarchie, an die Armee, an
alles, was uns groß gemacht hat und uns allein groß erhalten kann.“
Ende September meinte Geheimrat Leyden, nachdem er mich unter-
sucht hatte, daß ich, um die letzten Nachwehen meiner gefährlichen Hals-
entzündung zu überwinden, noch einige Seebäder nehmen möge. Da sich in
der vorgeschrittenen Jahreszeit Nordseebäder nicht empfahlen, wurde ich
nach Biarritz geschickt. Vor meiner Abreise wohnte ich im Bismarckschen
Hause einem Diner bei, das zu Ehren der Verlobung der einzigen Tochter,
der damals dreißigjährigen Gräfin Marie, mit dem Grafen Kuno Rantzau
stattfand. Mein Vater, der die in der neuen Zeit seltener gewordene Gabe
besaß, hübsche 'Toaste auszubringen, auch aus dem Stegreif, sprach in nicht
nur formvollendeten und geistvollen, sondern auch von Herzen kommenden
und zu Herzen gehenden Worten dem Brautpaar seine und unser aller
Glückwünsche aus. Die gute Fürstin Johanna weinte vor Rührung, und der
Fürst umarmte und küßte meinen Vater. Ein Bismarckscher Hausfreund,
der ausgezeichnete Goethe-Forscher und Goethe-Kenner Gustav von
Loeper, meinte zu mir: „Das war abgeklärter Goethescher Geist, ein Labsal
Politische
Abteilung
Marie
Bismarck
und Graf
Rantzau