IM FAUBOURG SAINT-GERMAIN 465
mich mehr als einmal bei Grippen und Magenverstimmungen ärztlich be-
treut und rasch wieder auf die Beine gebracht. Vielleicht wäre ich aber auch
ohne ihre kleinen weißen Kügelchen genesen. Sie behandelte mich über-
haupt mit mütterlicher Güte. Sie hat mich in die Pariser Gesellschaft ein-
geführt, wo Geburt und aristokratisches Wesen ihr bald eine große Stellung
verschafft hatten. Ich weiß nicht, ob sie immer alle zehn Gebote erfüllt hat,
aber das elfte hat sie gewissenhaft befolgt: sie ließ sich nie verblüffen. Ein-
mal sagte ihr auf ihrem wöchentlichen Empfangstage in meinem Beisein
eine deutsche Dame, eine geborene Bethmann aus der bekannten Frank-
furter Bankierfamilie, die einen als Franzosen naturalisierten Schweizer,
Monsieur Hottinger, geheiratet hatte und sich mit dem Eifer der Renegatin
ganz als Französin gab: „Ich wäre schon früher gekommen, aber keiner
meiner französischen Freunde konnte mir Ihre Adresse sagen.“ Ohne mit
der Wimper zu zucken, erwiderte die Fürstin von oben herunter: „Die
Leute, die ich sehen will, wissen, wann ich zu Hause bin. Daß die anderen
nicht kommen, ist mir besonders angenehm.“ Sie ging fast jeden Abend mit
mir in die sogenannte große Welt. Inzwischen las Fürst Chlodwig zu Hause
die Abendblätter, schrieb Berichte und machte sich Notizen für seine Denk-
würdigkeiten, die viele Jahre später nach ihrer Veröffentlichung in so
hohem Grade den Zorn des Kaisers Wilhelm II. erregen sollten.
Obwohl seit dem Kriege kaum acht Jahre verflossen waren, habe ich
damals in den meisten Häusern des Faubourg Saint-Germain, des aristo-
kratischen Viertels von Paris, verkehrt. Die kluge Gräfin Laferronnays
sagte einmal zu mir: „Vous voyez combien vous &tes bien acceuilli un peu
partout. Si vous rencontrez par ci par la quelqu’un qui vous fait mine grise
n’oubliez pas que nous avons et£, helas, vaincus. Si nous avions et& les
'vainqueurs, nous serions a vos pieds.‘‘ Das war gut gemeint, aber doch
nicht ganz zutreffend. Ich höre, daß die Pariser Gesellschaft, nachdem uns
Frankreich im Bunde mit der ganzen Welt besiegt hat, Deutschen gegen-
über unliebenswürdiger ist als nach der französischen Niederlage von
1870/71. Macchiavelli scheint also doch recht zu haben, wenn er meint, daß
Menschen auf zweierlei Weise gewonnen und geleitet würden, entweder
durch Furcht oder durch Liebe. Die Furcht sei sicherer.
Mehr Anregung als die in Paris wie überall im Grunde banalen Salons
boten mir zwei Häuser, wo ich mit einer Güte aufgenommen wurde, die mir
unvergeßlich geblieben ist. Der Direktor der Banque de France, Georges
Pallain, war ein aufrechter und warmherziger französischer Patriot und
ein hervorragend tüchtiger Finanzmann. Er war auch ein feinsinniger
Schriftsteller, der die Korrespondenz herausgab, die Talleyrand während
des Wiener Kongresses mit Louis XVIII führte, und selbst einen inter-
essanten Essay über Mirabeau geschrieben hat. Bei ihm begegnete ich zum
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Pariser
Salons