Full text: Bernhard Fürst von Bülow - Denkwürdigkeiten. Vierter Band. Jugend- und Diplomatenjahre. (4)

Patriotismus 
und Parteien 
Waldeck- 
Rousseau 
472 DIE LETZTE KARTUSCHE 
Volkstribunen in dessen altem Wahlkreis, dem Arrondissement Belleville, im 
Mai 1871 gewiß mancher auf Befchl des Kavalleriegenerals niedergemacht 
worden war. Das elastische Naturell des Franzosen und vor allem sein 
bewunderungswürdiger Patriotismus überbrücken alle politischen Gegen- 
sätze und versöhnen im entscheidenden Augenblick auch die bittersten 
Feinde auf dem Boden gemeinsamer Liebe zum Vaterland. Als der lang- 
jährige Führer der klerikalen Legitimisten in der Französischen Deputierten- 
kammer, der Graf de Mun, der sich als Kürassieroberst im Mai 1871 in 
hervorragender Weise an der Unterdrückung der Commune beteiligt hatte, 
gerade beim Beginn des Weltkrieges starb, hielt ihm „le dernier survivant 
de la Commune“, das letzte überlebende Mitglied der Commune und einer 
ihrer hervorragendsten Führer, Edouard Vaillant, eine den Grafen Mun 
preisende, hochpatriotische Grabrede. Als im letzten Stadium des Welt- 
krieges Clemenceau, ähnlich wie im Winter 1870/71 Gambetta, die Guerre 
jusqu’au bout predigte, ließ sich der klerikalste General der Armee, 
Castelnau, bei ihm melden. ,‚Je suis celui qu’on appelle le ‚Capucin botte‘ 
(Ich bin der, den sie den gestiefelten Kapuziner nennen). Et je viens me 
mettre entierement ä& votre disposition.‘“ Der Ministerpräsident, Atheist 
und Kirchenfeind par excellence, frug: „„Etes-vous patriote ?° Der General: 
„Jusqu’a la mort.‘‘ — „Alors je vous donne l’accolade.‘“ Und in den Armen 
liegen sich beide und weinen vor Schmerz und vor Freude. Und wir Deutsche? 
Übrigens hat sich Gambetta, als er 1881 die Regierung übernahm, keinen 
Augenblick besonnen, den reaktionärsten und monarchistischsten Offizier 
des französischen Heeres, den General Miribel, an die Spitze des großen 
Generalstabes zu stellen. 
Während des Diners bei dem Grafen Roger du Nord hatte Gambetta 
meine Aufmerksamkeit auf den Abgeordneten Waldeck-Rousseau 
gelenkt. Erst zweiunddreißig Jahre alt, acht Jahre jünger als Gambetta, 
war er äußerlich sehr verschieden von ihm, ein schlanker, hochgewachsener 
Mann mit einem ruhigen, regelmäßigen, sehr ernsten Gesicht und kalten 
Augen. Er war mit Sorgfalt, ja elegant gekleidet. Auf der Tribüne wirkte er 
weniger durch eine donnernde als durch eine scharfe und in ihrer Deutlich- 
keit weittragende Stimme. Er sprach, was in Frankreich nicht häufig ist, 
ohne Gesten, aber im Kommandoton. Er war nie emphatisch, bisweilen 
sarkastisch, ein wenig von oben herunter. Die Kammer imponierte ihm 
gar nicht. Seine Reden waren sachlich und knapp, aber in der Fom vollendet. 
Als mich Gambetta mit ihm bekannt machte, sagte er zu mir: „Ce jeune 
homme sera un jour la derniere cartouche de la R£publique.““ Diese 
Prophezeiung sollte in Erfüllung gehen. Im Sommer 1899 zur Regierung 
berufen, rettete Waldeck-Rousseau das durch die Dreyfus-Affäre und die 
schwächliche Politik seiner Vorgänger an den Rand des Bürgerkrieges
	        
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