Gambetta fragt
nach
Deutschland
474 ZENTRALISATION
schützen und gewinnen. Der Antiklerikalismus, meint Gambetta, sei kein
Ausfuhrartikel. Aber im Innern ist und bleibt der Gegensatz zwischen
Revolution und Kirche der tiefste Grund unserer Parteistreitigkeiten
während der letzten fünfzig Jahre und wird noch zu manchem Kampf
führen.“
Gambetta hatte mich liebenswürdig aufgefordert, ihn gelegentlich zu
besuchen. Wenn ich dieser freundlichen Einladung Folge leistete, so habe
ich ihn nie verlassen, ohne das Gefühl zu haben, daß ich eine genußreiche
und interessante Stunde mit einem sehr bedeutenden Mann verbracht
hatte. Seine Gegner warfen ihm gern Oberflächlichkeit und mit Vorliebe
Unwissenheit vor. Daß er einmal in einer improvisierten Rede die franzö-
sische Niederlage bei Crecy als einen der vielen französischen Sieges- und
Ehrentage erwähnt hatte, wurde ihm immer wieder mit mehr Behagen als
Witz, mit Entrüstung und Hohn vorgeworfen. In Wirklichkeit hatte er
ungeheuer viel gelesen und nicht nur gelesen, sondern mit einem ungewöhn-
lichen Gedächtnis in seinem Gehirn aufgespeichert. Bei meinen Besuchen
stellte er mancherlei Fragen an mich über deutsche Zustände und Ein-
richtungen, von denen er nicht allzuviel wußte. Ich bemühte mich, ihm
unsere verfassungsrechtlichen Zustände klarzumachen, die in ihrer Kom-
pliziertheit sein Erstaunen und Befremden erregten. Er begriff schwer,
warum Bismarck nicht Deutschland in derselben Weise unifiziert hatte,
wie dies Cavour und dessen Nachfolger in Italien geglückt sei. Er ver-
stand, daß der deutsche Bundesrat gegenüber dem aus dem allgemeinen
Stimmrecht hervorgegangenen Reichstag ein konservatives Gegengewicht
bilden sollte. „Ahvoila! Le Conseil Federal a les fonctions tres utiles et
tres necessaires qu’exerce chez nous le Senat.“ Aber das in der Tat sehr
komplizierte Verhältnis zwischen Preußen und dem Reich überstieg sein
Fassungsvermögen. Sein an lateinische Klarheit, ‚‚la clarte latine‘“, an die
abstrakten französischen Formeln gewöhntes Denken bäumte sich auf. Als
ich ihm sagte, daß die französischen staatsrechtlichen Einrichtungen
einem wohlgepflegten, von Andre Lenötre in Versailles angelegten Garten
glichen, unsere Verfassungszustände aber an einen deutschen Wald er-
innerten, erwiderte er mir, daß er den Garten von Lenötre bei weitem vor-
ziehe. Er war felsenfest davon überzeugt, daß ein zentralisiertes Land eine
größere Schlagkraft besitze als ein föderativ organisiertes. „La force de la
France reside dans son unite, dans sa centralisation. Nous la devons a
Richelieu, le grand cardinal que j’admire par-dessus tout, a son successeur
Mazarin, a Louis XIV qui me£rite le surnom ‚le Grand‘ pour l’Energie avec
laquelle il a maintenu et fortifie ’unite delaFrance, ala grande Convention,
au grand Napoleon. Tous ils ont centralise.‘“ Als ich diese Äußerungen
später gelegentlich dem Fürsten Bismarck erzählte, meinte er: „Ein