Full text: Bernhard Fürst von Bülow - Denkwürdigkeiten. Vierter Band. Jugend- und Diplomatenjahre. (4)

Die andere 
Seite der 
Barrikade 
480 THIERS BEI DER TRUPPENSCHAU 
Wiegenlied gewesen, von der Lamartine mit Recht gesagt hat, „qu’elle 
reste gravee a jamais dans l’äme de la France‘. Danton hatte die Republik 
auf die belgischen und deutschen, Gambetta auf die Schlachtfelder der 
Loire und der Somme geführt. Die Armee war der französischen Demo- 
kratie in allen ihren Schattierungen ebenso teuer wie jedem andern Fran- 
zosen. Gambetta hatte gesagt, die Armee sei die letzte Hoffnung und 
müsse der erste Gedanke jedes guten Franzosen sein. Als Thiers im Juni 
1871 bei der Truppenschau in Longchamps nach der blutigen Niederwerfung 
des Commune-Aufstandes über die goldene Einfassung seiner Brille hinweg 
auf die an ihm vorbeimarschierenden Truppen blickte, die, kaum aus deut- 
scher Gefangenschaft zurückgekehrt, in sechs Wochen einer harten Be- 
lagerung und in sehr heftigen Straßenkämpfen mit der sozialistischen 
Empörung fertig geworden waren, liefen dem patriotischen Greis Tränen 
der Freude und der Begeisterung über die Wangen. Als der radikale 
Georges Clemenceau nach dem Ende des für Frankreich siegreichen Welt- 
krieges von seinen Verehrern gefragt wurde, wie er das Denkmal wünsche, 
das ihm nach seinem Tode von seinem dankbaren Vaterland errichtet 
werden würde, meinte er, man möge ihn am Rande eines Schützengrabens 
darstellen, aus dem ihm französische Soldaten, ‚les poilus“, als ihrem 
Führer im Kampfe „jusqu’au bout‘ zujubelten. 
Es war auch ein Irrtum des Fürsten Bismarck, wenn er glaubte, daß eine 
Republik in Frankreich durch fortgesetzte innere Parteikämpfe, Streiks 
und revolutionäre Unruhen so geschwächt werden würde, daß sie nach 
außen nicht mehr aktionsfähig sein könnte. Die Französische Republik hat 
sehr wohl verstanden, die innere Ruhe aufrechtzuerhalten, mit fester, 
nötigenfalls mit harter Hand. Bei Streiks griff sie schärfer zu als je eine 
deutsche Regierung. Nach Beilegung des Bergarbeiterstreiks vom Winter 
1905 sprach mir der französische Botschafter in Berlin, Jules Cambon, 
seine Verwunderung und seine ehrliche Bewunderung darüber aus, daß 
dieser Riesenaufstand ohne Blutvergießen vorübergegangen sei. „Bei uns 
in Frankreich“, fügte er hinzu, „wird bei Ausständen fast immer ge- 
schossen.“ In dieser Beziehung war einer der hervorragendsten französischen 
Staatsmänner, Adolphe Thiers, seinen Nachfolgern mit gutem Beispiel 
vorangegangen. Wenige Jahre nachdem er sich selbst an der Juli-Revo- 
lution gegen Karl X. beteiligt hatte, schickte er als Minister des Innern des 
Königs Ludwig-Philipp die Arbeiter des Lyoner Viertels, der Croix Rousse 
und der Pariser Rue Transnonain, die nach dem Vorbild von 1830 noch 
einmal Barrikaden aufgeworfen hatten, ohne Erbarmen auf das Schafott. 
Siebzig Jahre später zeigte Georges Clemenceau dieselbe Wandlungsfähig- 
keit wie vor ihm Adolphe Thiers. In Südfrankreich war ein Streik aus- 
gebrochen. Wie gewöhnlich hatten die Arbeitgeber nach der Arbeits-
	        
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