EIN TRAUM 491
Kammerdiener Claude Anet gestanden hatte, daß sie sich dieser Beziehungen
freute und daß Jean-Jacques stolz war, der Dritte in diesem Bunde zu sein,
verbat sie sich ernstlich derartige Parallelen. Wie wir uns ohne Leidenschaft
gefunden hatten, so trennten wir uns ohne Schmerz. Ich stellte meine
Besuche bei der Gräfin D. allmählich ein, und auch die Korrespondenz mit
ihr ließ ich nach und nach einschlafen.
Fast dreißig Jahre später wurde ich in seltsamer Weise wieder an sie
erinnert. Es war nicht lange vor meinem Rücktritt als Reichskanzler, daß
ich einen wunderlichen Traum hatte. Ich träume sehr selten. Dafür war
dieser Traum so lebhaft und so anschaulich wie die Träume, von denen uns
Homer berichtet. Plötzlich stand die Gräfin D. vor mir, leibhaftig, ganz
unverkennbar. Es war ihr Gesicht, ihre Stimme, ihr Ausdruck. „Enfin
je vous revois“, begann sie in der natürlichsten Weise. „Il y a bien long-
temps que nous ne nous sommes plus vus. Pourquoi ne m’avez vous jamais
ecrit? Amoiqui vous aimais bien?“ Ich erwiderte, nicht ohne Verlegenheit,
aber in guter Haltung: ,‚J’ai eu tort, tr&s-tort, ma chere amie. Mais si vous
saviez combien ma vie a te agitee! J’etais si occupe. Mais si je ne vous ai
pas Ecrit, je ne vous ai pas oubliee.““ Sie reichte mir die Hand und ent-
schwand, wie die Traumgestalten bei Homer verschwinden, in sanft-
wehende Luft, 25 rvords aveuov. Als ich am nächsten Vormittag an
meinen Schreibtisch im Reichskanzlerpalais trat, ergriff ich einen Block
und schrieb auf ein Quartblatt: „Chiffrierbüro. Ich bitte, mir rechtzeitig
die Abreise des nächsten Feldjägers nach Paris zu melden, dem ich einen
Brief mitgeben will“ Bevor ich meine Absicht, meiner Freundin zu
schreiben, ausführen konnte, entnahm ich einer Pariser Zeitung, die ich bei
meinem Morgentee las, daß die Gräfin D. in derselben Nacht gestorben war,
in der ich jenen seltsamen Traum gehabt hatte. Ihr Tod, hieß es in der
betreffenden Zeitungsnotiz, hinterlasse eine fühlbare Lücke in der großen
Pariser Welt, wo sie von vielen Sympathien und allgemeiner Verehrung
umgeben gewesen sei.
Ich enthalte mich jeden Kommentars und will nur feststellen, daß ich
mich niemals mit Spiritismus, Somnambulismus, Hellsehen, Hypnose,
Telepathie beschäftigt habe, daß jede Art von Okkultismus mir immer
völlig ferngelegen hat. Im übrigen verweise ich auf das, was Schopenhauer
sowohl in seinem Hauptwerk „Die Welt als Wille und Vorstellung‘ wie in
den „Parerga und Paralipomena“ über Träume und Visionen gesagt hat.