Full text: Bernhard Fürst von Bülow - Denkwürdigkeiten. Vierter Band. Jugend- und Diplomatenjahre. (4)

Kur in Ems 
498 WILHELM I. IM HEILBAD 
wollte gern Gräfin von Keßler werden. Sie verhehlte diesen ihren glühenden 
Wunsch nicht meinem lieben Freund, dem Prinzen Heinrich XVIII. Reuß, 
als er ihr, natürlich wiederum en tout bien et en tout honneur, ein Jahr 
später, 1880, in demselben Ems den Hof machte. Den preußischen Grafen- 
titel vermochte er ihr nicht zu verschaffen, aber es gelang ihm, bei seinem 
Vetter, dem Fürsten Heinrich XIV. Reuß (jüngere Linie), die Erhebung des 
Herrn von Keßler in den Fürstlich Reußischen Grafenstand zu erlangen. 
Das hatte für die deutschen Duodezfürsten die betrübende Folge, daß ihnen 
von Berlin aus nach vorhergegangener Verständigung unter den vier 
Königreichen Erhebungen in den Grafenstand untersagt wurden. Aber der 
brave Keßler, der als Kommis in dem Kaufmannshaus Auffmort die Arena 
des Lebens betreten hatte, blieb Reuß-, Greiz-, Schleiz- und Loben- 
steinscher „Graf“ Keßler. Nur daß außerhalb des kaum hundertfünfzig- 
tausend Einwohner zählenden Fürstentums Reuß sein Grafentitel nicht 
anerkannt wurde, insbesondere nicht in Preußen. Das hat nicht verhindert, 
daß der Sohn des Reußischen (jüngere Linie) Grafen Keßler sich unter dem 
republikanischen Regime im Auslande als „‚Graf“‘ diplomatisch betätigen 
konnte. Die Mutter hat übrigens in der Folgezeit bewiesen, daß sie nicht nur 
distinguierte Deutsche zu bezaubern verstand. Zu ihren späteren Anbetern 
gehörte auch der General Boulanger, der ihr aber schließlich Madame de 
Bonnemain vorzog, auf deren Grabe er sich am 30. September 1891 in 
Brüssel erschoß. 
Im Juli 1879 wurde ich von meinem trefflichen Pariser Arzt, dem 
Dr. Monod, nach Ems geschickt, um dort durch eine Trink- und Badekur 
meinen Hals zu kräftigen, der noch immer bei mir der ‚‚locus minoris resisten- 
tiae“‘ war. Einige Tage nach meiner Ankunft in Ems traf unser lieber alter 
Kaiser dort zu seinem gewohnten dreiwöchigen Aufenthalt ein. Nichts konnte 
schlichter und anspruchsloser sein als sein Leben und Auftreten in Ems. 
Wer auf dem sogenannten „Pilz“, einer kleinen Terrasse gegenüber dem 
Kurhaus, morgens frühstückte, erblickte vor sich an einem Fenster des 
vom Kaiser im Kurhaus bewohnten bescheidenen Appartements den 
zweiundachtzigjährigen Herrn, der, schon um neun Uhr, Stöße von Akten 
vor sich, seine Tagesarbeit begann. Er wandte den Blick nicht von dem 
Tisch, an dem er arbeitete. Er öffnete selbst die Kuverts der Briefe, die vor 
ihm lagen, und siegelte sie dann selbst wieder zu. Er machte sich häufig 
Notizen. Unbeschriebene Blätter der Eingänge schnitt er ab und legte sie 
in seine Schieblade, um sie eintretendenfalls als Konzeptpapier zu ver- 
wenden. Ems war der einzige Ort, wo der Kaiser Zivilkleidung anlegte. Er 
trug einen langen schwarzen Gehrock, eine weiße Weste, eine selbst- 
gebundene Krawatte und hellfarbige Beinkleider. Diese Beinkleider führten 
in jedem Jahr zu einer kleinen Meinungsverschiedenheit zwischen dem
	        
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