Die
Schwenkung
zu Österreich-
Ungarn
506 BISMARCKS JÄHER VORSTOSS
persönlichen Beziehungen zu Bismarck ab, die es ausschließen, daß ich den
von mir bewunderten und geliebten großen Freundin diesem entscheidenden
Moment im Stiche lasse. Aber auch rein sachlich betrachtet würden wir
in eine unmögliche Situation geraten, wenn Kaiser Wilhelm nicht unter-
schreibt. Bismarck tritt dann zweifellos zurück, in Deutschland würde
begreifliche allgemeine und tiefgehende Erregung, die schlimmste Kon-
fusion entstehen. Was würde aus unserm Verhältnis zu Österreich werden?
Wir würden die Braut sitzenlassen nach erfolgter und allgemein bekannt-
gewordener Verlobung, unmittelbar vor der Hochzeit! Rußland würde sich,
gereizt und mißtrauisch, aber nicht wirklich eingeschüchtert, von uns ab-
und gegen uns wenden. Und die Franzosen ? Es wäre das Chaos! Wir müssen
über die Stromschnelle hinweg in der Hoffnung, daß unser großer Schiffer
uns auch diesmal mit seiner genialen Geschicklichkeit bald wieder in
ruhigeres Fahrwasser steuern wird.“ Fest entschlossen, auch in dieser
Schwierigkeit zu seinem alten Freund Bismarck zu stehen und ihn mit
voller Hingebung zu unterstützen, hatte mein Vater doch mehr als bei
früheren Gelegenheiten innere Zweifel an der Richtigkeit des von Bismarck
eingeschlagenen Weges und vor allem hinsichtlich des stürmischen
Tempos, mit dem dieser Weg beschritten wurde.
Während ich an seinem Schreibtisch saß, führte mein Vater halb in
Monologen, halb in Auseinandersetzungen, die mich orientieren sollten,
nachstehendes aus. Ich möchte für jedes Wort seiner Ausführungen ein-
stehen, die mir mit besonderer Lebhaftigkeit im Gedächtnis geblieben sind:
„Bismarcks Vorstoß gegen Rußland erfolgt ab irato, und darum finde ich
seine Schwenkung zu Österreich zu abrupt. Ich sage das sine ira et studio,
quorum causas procul habeo. Ich habe viele Jahre meines Lebens im groß-
deutschen Lager gestanden. Preußen war mir, bevor ich 1867 nach Berlin
kam, nicht unbedingt sympathisch. Du wirst dich erinnern, daß ich vor
gerade zwei Jahrzehnten, 1859, während des Österreichisch-Französischen
Krieges, mit meinem Herzen ganz auf österreichischer Seite stand. Als du
damals, ein kleiner Junge, in Frankfurt a. M. mir ein Extrablatt mit der
falschen und hinterher dementierten Nachricht von einem großen öster-
reichischen Siege bei Magenta überbrachtest, schenkte ich dir aus Freude
einen Gulden. In derselben Zeit hat sich Bismarck als preußischer Gesandter
in St. Petersburg dort über die österreichischen Niederlagen in der Lombardei
ohne Zweifel aufrichtig gefreut. Deine gute Mutter trug damals mit Vorliebe
schwarz-gelbe Toiletten. Außerhalb Preußens schwärmte in Deutschland
eigentlich alles für das alte Österreich, an Ehren und an Siegen reich. Vier
Jahre später war die über ein gemeinsames Handeln gegenüber der pol-
nischen Insurrektion mit Rußland abgeschlossene Militärkonvention für
Bismarck der Ausgangspunkt seiner großen Politik, die uns über Königgrätz