Full text: Bernhard Fürst von Bülow - Denkwürdigkeiten. Vierter Band. Jugend- und Diplomatenjahre. (4)

IGNORIERTE GEFÜHLSMOMENTE 507 
nach Versailles führte. Ohne wohlwollende russische Neutralität war weder 
1864, noch 1866, noch insbesondere 1870/71 möglich. Wenn unsere offiziöse 
Presse jetzt zu beweisen sucht, daß Rußland, als es Sechsundsechzig und 
Siebzig eine für uns freundliche Neutralität beobachtete, nur sein eigenes 
Interesse wahren wollte und nicht aus altruistischen, sondern aus rein 
egoistischen Motiven handelte, so trifft das doch nicht ganz zu. Jedenfalls 
nicht für Kaiser Alexander II. Dessen preußenfreundliche Haltung ging 
zu sehr großem Teil aus Liebe und Verehrung für seinen Oheim, den König 
Wilhelm, hervor, aus Pietät für seine verstorbene Mutter, die Prinzessin 
Charlotte von Preußen, aus der Erinnerung an die preußisch-russische 
Waffenbrüderschaft von 1813 bis 1815, an die jahrzehntelangen innigen 
Beziehungen nicht nur zwischen beiden Dynastien, sondern auch zwischen 
den beiden Staaten. Bismarck ignoriert jetzt geflissentlich und zu sehr die 
Gefühlsmomente, die auch der Realpolitiker in Rechnung stellen muß. 
Denke zurück an die persönliche Haltung des Kaisers Alexander II. 
während des ganzen Deutsch-Französischen Krieges, an die herzlichen 
Glückwünsche, die er nach jedem deutschen Siege an seinen alten Oheim 
gelangen ließ, an die Georgskreuze, die er nach dem Kriege nicht nur an 
seine preußischen Regimenter, sondern in der ganzen deutschen Armee 
verteilen ließ. Bis heute bringt der Zar an jedem 18. August im Lager von 
Krasnoje-Selo, unbekümmert um die Anwesenheit des französischen 
Militärbevollmächtigten, einen Toast auf die preußische Garde aus, die sich 
bei Saint-Privat mit Ruhm bedeckt habe, und auf das Kaiser-Alexander- 
Garde-Grenadier-Regiment, dessen Chef zu sein der Stolz seines Lebens sei. 
Ich wiederhole dir, daß ich eine Annäherung an Österreich richtig finde, 
aber ich hätte sie ruhiger gewünscht. Nun, gerade der geniale Mensch hat 
Fehler, die die Kehrseiten seiner großen Eigenschaften sind. L’homme a les 
defauts de ses qualites. Bismarck läßt sich so sehr von seinem Zorn bin- 
reißen, daß er glaubt, Alexander II. habe ihn, von Manteuffel dazu er- 
muntert, bei Wilhelm I. verdächtigen wollen und damit einen gewissen 
Erfolg erzielt. Als ob unser guter alter Kaiser gerade gegenüber seinem 
großen Kanzler nicht die Loyalität selbst wäre.“ 
Um den Widerstand des Kaisers gegen das Bündnis mit Österreich zu 
überwinden, wurde der Vizepräsident des Staatsministeriums, der damalige 
Graf, spätere Fürst Otto zu Stolberg-Wernigerode, nach Baden- 
Baden geschickt. Stolberg, der mir, wie ich schon erwähnte, in Wien ein 
gütiger Chef, später und bis zu seinem zu frühen Tode ein wohlwollender 
Freund und Gönner war, hat mir oft erzählt, wie schwer es ihm geworden 
sei, den letzten Widerstand des alten Kaisers zu überwinden. In seiner 
inneren Erregung habe der sonst so ruhige und gemessene Greis einmal 
so heftig auf den Tisch geschlagen, daß die Tinte im Tintenfasse hoch 
Graf Otto 
Stolberg wird 
zum Kaiser 
geschickt
	        
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