Bismarcks
Kranken-
besuch
510 DER KANZLER ÜBER SEINE MITARBEITER
meinte er, „ist unzuverlässig. Niemand hat je gewußt, woher sein Vater
eigentlich kam, ob er Wallache, Slowake oder ungarischer Jude war.
Jedenfalls ist der Vater Radowitz Zögling einer französischen Militärschule
gewesen und hat bei Leipzig auf französischer Seite gefochten. Später
wußte er sich an Friedrich Wilhelm IV. heranzuschlängeln, der wie sein
Großvater, Friedrich Wilhelm II., für Aventuriers ein Faible hatte. Unser
jetziger Radowitz hat durch seine preußische Mutter, eine Voß, einen
Schuß anständiges Blut im Leibe. Er ist in geordneteren Verhältnissen
aufgewachsen als der Vater, aber Verlaß ist nicht auf ihn. (Ich töne ab.)
Er hat kein Vermögen und eine russische, weltliche und unruhige Frau.
Er ist ein guter Arbeiter, ein politischer Kopf ist er nicht. Das ist Paul
Hatzfeldt. Dafür ist der faul und unwissend. Es fehlt ihm die sittliche
Basis. Wenn Sie sehen wollen, wie innere Grundsatzlosigkeit (ich töne ab)
in den Gesichtszügen eines Menschen zum Ausdruck kommen kann, so
sehen Sie sich Paul Hatzfeldt an.“ Wieder schwieg der Fürst, dann fuhr er
fort: „Wenn Sie erst älter sein werden, Herr von Bülow, werden Sie sehen,
wie wenige Menschen gleichzeitig klug und anständig sind. Die anständigen
Leute sind leider meist einfältig, und die klugen taugen oft nichts. Ihr Herr
Vater ist klug, ist geschickt, und dabei ist er durch und durch ein Edelmann
und ein Ehrenmann, darum trenne ich mich so sehr schwer von ihm.“ Der
Fürst entließ mich mit dem Bemerken, daß er meinen Vater am nächsten
Tage in Potsdam besuchen wolle. Die Stunde seiner Ankunft werde er noch
telegraphieren lassen. Er wolle an der Bahn nicht abgeholt werden und
meinen Vater nur in Gegenwart meiner Mutter sehen, ihn auch gewiß nicht
ermüden noch aufregen.
Am nächsten Tage fuhr der Fürst bei der von meinen Eltern in dieser
Jahreszeit bewohnten Villa am Potsdamer Pfingstberg vor. Er war ohne
Begleitung. Er trat sogleich in das Zimmer, wo mein Vater im Bett lag.
Nachdem er ihn umarmt und geküßt hatte, begann er mit ihm und mit
meiner am anderen Ende des Bettes sitzenden Mutter ein Gespräch über
alte Erinnerungen aus ihrer gemeinsamen Frankfurter Zeit, an die er, wie
er sich ausdrückte, zurückdenke wie unsere Großeltern Adam und Eva an
ihr verscherztes Paradies. „Damals waren wir jung und zufrieden, jetzt sind
wir alt und verdrießlich, wenigstens ich.“ Er sagte meinem Vater, daß er
sein Abschiedsgesuch beim Kaiser unmöglich in Vorlage bringen oder gar
befürworten könne. Der Kaiser würde das Gesuch auch gar nicht ge-
nehmigen. „Er hält von Ihnen ebensoviel wie ich, das heißt sehr viel.
Reisen Sie also mit unbestimmtem Urlaub ab und bleiben Sie fort, so
lange es für Ihre Gesundheit nützlich und notwendig ist, Sie wissen ja, wie
sehr wir uns alle freuen werden, wenn Sie gesund zurückkommen.“ Dann
umarmte er meinen Vater und küßte ihn nochmals auf beide Wangen,