EIN RÖMISCHES GELEHRTENHEIM 535
jedoch, daß mein Besuch in Rom keinerlei Aufsehen errege. Gerade als
geschiedene Frau müsse ihre Tochter doppelt vorsichtig sein und allem
Gerede sorgsam vorbeugen. Donna Laura schlug mir vor, nicht in einem der
großen römischen Hotels, sondern bei einem ihrer Freunde, dem Senator
und Professor der Physik Pietro Blaserna abzusteigen, im Istituto
Fisico auf dem Viminal, Via Panisperna. So lernte ich den ausgezeichneten
Gelehrten kennen, der auch mir bis zu seinem während des Weltkrieges
erfolgten Tod ein treuer und kluger Freund gewesen ist. Blaserna stammte
aus Görz am Isonzo. Als Italiener, aber unter österreichischer Herrschaft
geboren, hatte er in Wien und Berlin studiert und sprach geläufig Deutsch.
Er war eng befreundet mit unserm großen Naturforscher Hermann
Helmholtz, dessen klassische Schriften er in das Italienische übersetzt
hatte, dessen begeisterter Apustel er war und mit dem er sich im Sommer
im Engadin zu treffen pflegte. Man konnte nichts Gemütlicheres und
Stimmungsvolleres sehen als das Heim des guten Blaserna. An den vier
Wänden seines Arbeitszimmers erhoben sich gewaltige, bis an die Decke
reichende Regale, die von oben bis unten mit Büchern angefüllt waren.
Broschüren und Zeitschriften bedeckten den Boden. In der Mitte des
Zimmers aber stand ein großer Vogelkäfig, in dem Kanarienvögel fröhlich
von einer Stange auf die andere hüpften, aus den an den Ecken angebrachten
Näpfchen tranken und an den Blättern zupften, die ihnen durch das Gitter
des Riesenkäfigs ihr gütiger Herr reichte, der sie wie ein Vater betreute.
„Ich bin unvermählt geblieben‘‘, meinte er lachend, „diese hier sind meine
Kinder.“ In den drei Tagen, die ich in Rom blieb, hatte ich mit Blaserna
manche interessante und für mich lehrreiche Unterredung. Er sprach,
gegen die italienische Gewohnheit, langsam, fast zögernd, aber was er
sagte, hatte Hand und Fuß, mochte er nun als Präsident der Academia dei
Lyncei, der vornehmsten italienischen Akademie, das Wort ergreifen uder
als Vizepräsident des Senats seines Amtes walten oder vor einer zahlreichen
Zuhörerschaft wißbegieriger Studenten eine Vorlesung halten oder eine
freundschaftliche Unterhaltung führen.
Am Tage nach meiner Ankunft in Rom wurde ich von Marco Minghetti
empfangen. Er stand im sechsundsechzigsten Lebensjahr. Er stammte aus
Bologna und hatte, wie manche Norditaliener, blondes Haar und rote
Wangen. Er war groß und wohlgebaut, ein Staatsmann und ein Gelehrter,
mit weltmännischen Formen. Er sah schon auf eine große politische Ver-
gangenheit zurück. Er war 1848 Minister des Papstes Pio IX gewesen bei
dem ersten und letzten Versuch, den die Kurie machte, sich mit der
italienischen Einheitsbewegung auszusöhnen, indem sie sich an ihre Spitze
stellte. Als dieser Versuch an der Ungeduld der radikalen Elemente der
italienischen Nationalpartei und an der Unentschlossenheit des Papstes
Marco
Minghetti