Full text: Bernhard Fürst von Bülow - Denkwürdigkeiten. Vierter Band. Jugend- und Diplomatenjahre. (4)

DAS EHE-HINDERNIS 537 
nur daß die Heftigkeit, zu der sich der größte Redner des alten Rom gegen- 
über Catilina, Verres und Antonius hinreißen ließ, dem immer maßvollen 
Marco Minghetti fernlag. Minghetti besaß ein eisernes Gedächtnis. Als er 
einmal in Bologna Vorlesungen über Dante hielt, sprach er nicht nur ganz 
frei, ohne Manuskript, sondern er hatte nicht einmal die „Divina Commedia“ 
vor sich, die er vom ersten bis zum letzten Vers auswendig konnte. Auch den 
Tasso, den Ariost und den Virgil hatte er im Kopf. Als er starb, lag unter 
seinem Kopfkissen die „Imitation Christi“ von Thomas a Kempis, die er 
immer wieder seinem Gedächtnis einzuprägen pflegte. 
„Meine liebe Stieftochter Maria“, sprach Marco Minghetti im Frühjahr 
1884 zu mir, „die ich liebe, als ob sie meine leibliche Tochter wäre, hat mir 
von ihren Wünschen und Absichten gesprochen. Ich will ganz offen mit 
Ihnen sein, offen und klar, mit der clarte latine, von der ich viel halte. Ich 
zweifle nicht daran, daß Sie ein sehr charmanter junger Mann sind, wie mir 
dies meine Tochter und meine Frau übereinstimmend versichern. Ich 
zweifle ebensowenig an der Aufrichtigkeit Ihrer Gefühle für Maria. Aber 
mit dem Gefühl allein läßt sich keine Ehe aufbauen. Sie sind ebenso alt wie 
meine Maria, also noch jung, kaum 35 Jahre alt. Sie sind jetzt Erster 
Botschaftssekretär geworden, wozu ich Ihnen gratuliere. Das ist sehr nett, 
aber eine Position bedeutet das noch nicht. Wie Sie meiner Frau mit einer 
von ihr und mir sehr anerkannten Aufrichtigkeit erklärt haben, besitzen 
Sie wenig Vermögen. Das alles sind, wie ich gern zugeben will, Hindernisse, 
die ein tüchtiger Mann überwinden kann. Es gibt aber ein Hindernis, das 
vorläufig ganz unüberwindlich ist. Meine Tochter ist von Graf Dönhoff 
gerichtlich geschieden, aber nicht kirchlich. Eine Wiederverheiratung ist 
nur möglich, wenn die erste Ehe meiner Tochter vom Heiligen Stuhl für 
nichtig erklärt wird. Ohne diese Annullierung ist eine Wiedervermählung 
für sie selbst, für meine Frau und für mich wie für jeden Katholiken völlig 
ausgeschlossen.‘“ Als Minghetti sah, daß diese Antwort mich sehr betrübte, 
ja konsternierte, reichte er mir die Hand mit den Worten: „Ich weiß nicht 
warum, aber obwohl ich Sie sehr wenig kenne, empfinde ich Sympathie und 
selbst Vertrauen zu Ihnen. Ich verspreche Ihnen, daß, was an mir liegt, 
geschehen soll, um die Annullierung zu erreichen.“ 
Am Abend sagte mir Donna Laura, ich möchte nicht verzagen. Sie war 
eine mutige, eine große Natur. „Marco wird die Annullierung erreichen, wenn 
sich ein Anhaltspunkt findet‘, sagte sie zu mir. „Er erfreut sich im Vatikan 
großer Achtung und vieler Sympathien. Es kommt aber darauf an, daß die 
Annullierung direkt zwischen ihm und den Herren vom Vatikan verhandelt 
wird und daß kein Deutscher sich einmengt, weder der deutsche Botschafter 
beim Quirinal noch der preußische Gesandte beim Vatikan, weder Keudell 
noch Schlözer. Wir Italiener verstehen uns untereinander leichter und 
Die Frage 
der 
Annullierung
	        
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