Full text: Bernhard Fürst von Bülow - Denkwürdigkeiten. Vierter Band. Jugend- und Diplomatenjahre. (4)

Strafjustiz 
in Nordafrika 
Constantine 
542 999 SCHLÄGE 
ähnlich wie einst die alten Römer, die Christen noch mehr verachteten 
als die Juden, weil die ersteren eigentlich nur eine Sekte der letzteren 
wären. Übrigens hatte sich, wie mir Nachtigal versicherte, das kluge Volk 
Israel, wie einst in Ägypten und später in vielen anderen Ländern, trotz 
Unterdrückung und Mißhandlung auch in Nordafrika schon unter den Beys 
eine dominierende Stellung zu verschaffen gewußt. Alle Geldgeschäfte 
waren in den Händen der Juden. Sie waren die Schatzmeister, Geheim- 
schreiber und Dolmetscher des Bey, hielten dessen Juwelen und Brillanten 
unter ihrem Verschluß und kontrollierten die Münze. Sie stellten dem 
unwissenden Volk, das für exakte Studien wenig begabt war, Ärzte und 
Apotheker. 
Schauerlich war, was über die Grausamkeit erzählt wurde, die vor der 
französischen Besitzergreifung an der nordafrikanischen Küste geherrscht 
hatte. D’Estournelles mag aus naheliegenden Gründen in dieser Richtung 
übertrieben haben, aber auch Nachtigal wußte Übles zu berichten. Die 
kleinsten Vergehen wurden mit Prügel bestraft, die mit einem Ochsen- 
ziemer verabreicht wurden. Die Streiche wurden an einem Rosenkranz ab- 
gezählt. Mehr als 999 Schläge durften nach dem Koran nicht erteilt werden. 
So weit soll es aber kein Delinquent gebracht haben, namentlich, wenn 
ihm, wie dies erlaubt war, die Hiebe von vorn verabreicht wurden. Ein 
beliebter Brauch war es, einen für ernstlichere Vergehen Verurteilten bis 
an den Hals in den Sand zu graben und dann seinen Kopf den Mißhand-. 
lungen der Vorübergehenden preiszugeben. Oder auch, ihm Nasenlöcher, 
Mund und Ohren mit Schießpulver anzufüllen und dieses anzuzünden. 
Gelegentlich wurde auch ein Missetäter lebendig in die Haut eines toten 
Ochsen eingenäht. Oder man band ihn an den Schwanz eines Maultieres, 
das zum Galopp angetrieben wurde. Hoch in Ehren stand die Lex talionis. 
Ein jüdischer Garkoch, der überführt worden war, in Öl gebackenes 
Menschenfleisch verkauft zu haben, wurde nach und nach in kleine Stücke 
zerschnitten, die man eins nach dem andern in einen Kessel voll siedendem 
Wasser warf und dann vor den Augen des Sterbenden den Hunden zu 
fressen gab. Genug der Greuel. 
Von Tunis fuhr ich nach Bone, das noch heute ein beliebter Seeplatz ist 
und einst als Hippo Regius der Bischofssitz des heiligen Augustinus war, 
den ich sehr verehre und zu dessen „‚Confessiones‘ ich immer wieder greife. 
In Constantine, der auf einem Felsenplateau gelegenen, von einer tiefen 
Schlucht umgebenen Haupstadt des östlichen Algeriens, machte ich die 
Bekanntschaft eines höheren katholischen Geistlichen, eines würdigen und 
klugen Mannes, der mıir bereitwillig über seine Eindrücke und Erfahrungen 
Auskunft gab. Er glaubte nicht an die Gefahr und nicht einmal an die 
Möglichkeit eines Aufstandes der Eingeborenen in Algier und Tunis. Sie
	        
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