Full text: Bernhard Fürst von Bülow - Denkwürdigkeiten. Vierter Band. Jugend- und Diplomatenjahre. (4)

DIE WÜSTE 543 
kennten zu gut die numerische wie die technische Überlegenheit ihrer 
französischen Gebieter. Daraus folge freilich noch nicht, daß die Araber 
mit der französischen Herrschaft zufrieden seien oder sie gar liebten. Im 
Grunde sehnten sie sich nach der Zeit der Beys zurück, obwohl deren 
Herrschaft barbarisch gewesen sei. Übertritte der Eingeborenen zum 
Christentum kämen trotz der damit für sie verbundenen Vorteile sehr 
selten vor. Seltsamer- und traurigerweise fehle es dagegen nicht an der 
umgekehrten Erscheinung. Als die französischen Truppen bei der Okku- 
pation von Tunis in Kairuan eingerückt seien, der alten Hauptstadt des 
arabischen Afrika und einer der heiligen Stätten des Islams, mit prächtigen 
Moscheen und Gesetzesschulen, hätten sie in der Umgebung islamitische 
Anachoreten gefunden und unter ihnen frühere französische Offiziere und 
Beamte. Wie ein Christ, ein Europäer dazu kommen könnte, noch dazu als 
Einsiedler in der Wüste, sich in die Gedankengänge einer tief unter dem 
Christentum stehenden Religion zu verirren, wußte mein geistlicher Freund 
weder sich noch mir zu erklären. 
Von Constantine fuhr ich mit der Diligence über Batna und El Kantara 
nach Biskra. Hier lernte ich auf mehreren Ritten, die ich in Gesellschaft 
zweier junger französischer Offiziere unternahm, die Wüste kennen, Die 
Unermeßlichkeit des Horizonts, die Einförmigkeit, das tiefe Schweigen, 
der Ernst dieser Natur machten mir einen überwältigenden Eindruck. Ich 
begriff, daß das Judentum und mit ihm das Christentum, daß der Islam, 
daß drei große Religionen aus der Wüste hervorgingen. Sie führt zur 
Konzentration und zum Meditieren. Sie verfeinert die Empfindung, sie 
gibt der Einbildungskraft Flügel. Nur das Meer und die Hochalpen sind 
ihr vergleichbar. Als ich meiner Ergriffenheit, ja meinem Entzücken 
Ausdruck gab, unterbrachen mich meine Begleiter. ‚Wenn Sie‘, meinten 
sie, „als Offizier einige Sommermonate hier verweilen müßten, würden Sie 
anders sprechen. Für einen Offizier, einen zivilisierten Menschen, ist die 
Wüste die Hölle. Ni plus, ni moins! In jedem Sommer kommt es vor, daß: 
Offiziere unter dem Druck der Melancholie, die durch die entsetzliche 
Hitze und die Monotonie der Wüste erzeugt wird, zum Revolver greifen 
und ihrem Leben freiwillig ein Ende setzen. Was die Mehrzahl von uns 
aufrechterhält, ist das Pflichtgefühl und die Überzeugung, daß, wer hier 
Geist und Körper gestählt hat, wozu allerdings gehört, daß er sich des 
Alkohols enthält, jeder künftigen Anstrengung und allen denkbaren Ge- 
fahren gewachsen ist.““ 
Von meinen Begleitern hörte ich zum erstenmal die Ansicht aussprechen, 
daß für Frankreich sein nordafrikanischer Besitz nicht, wie dies in Deutsch- 
land angenommen zu werden scheine, eine militärische Schwächung, 
sondern vielmehr eine erhebliche Stärkung bedeute. Nordafrika sei ein 
Biskra
	        
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