GLADSTONES WAHLREFORMBILL 549
bequem gelegenen Wohnung beherbergen würde. Rasch entschlossen fuhr
ich zwei Tage später über Boulogne nach London. Mein Zug passierte
Amiens, und ich gedachte der Zeiten, wo ich im Dezember 1870 in Camon
im Quartier lag, bei Querrieux, Pont Noyelles und Daours focht und später
im schönen Mai 1871 im Gehölz von Longeau spazierenritt. In der englischen
Hauptstadt traf ich in einem politisch interessanten Augenblick ein. In der
englischen innern Politik drehte sich im Frühjahr 1884 alles um die Wahl-
reformbill, die Gladstone Ende Februar im Unterhause eingebracht hatte
und durch die mit einem Schlage die Gesamtzahl der Wähler nahezu ver-
doppelt werden sollte. Das dieser Reform abgeneigte Englische Oberhaus
operierte taktisch sehr geschickt. Es verfiel nicht in den Fehler, den im
letzten Jahre meiner Reichskanzlerzeit die preußischen Konservativen
begingen, als sie sich a limine jeder Reform des preußischen Wahlrechts
widersetzten. Klüger, staatsmännischer und patriotischer, erklärten die
englischen Konservativen und mit ihnen das House of Lords, in dem sie die
Mehrheit besaßen, daß die Ausdehnung des Wahlrechts an sich auch ihren
Wünschen entspräche. Dagegen stellten sie das nicht unbillige Verlangen,
daß die neue Verteilung der Parlamentssitze, die Gladstone erst später
vornehmen wollte, schon in die erste Bill einbezogen werden sollte, so daß
beide Parteien klar erkennen könnten, was sie durch die ganze Maßregel zu
gewinnen oder zu verlieren hätten. Das Oberhaus konnte die von ihm
gewünschte Verschmelzung der beiden Maßregeln in einen Gesetzentwurf
nicht durchsetzen. Aber da es sich entschieden weigerte, die erste Bill an-
zunehmen, bevor die zweite nicht wenigstens dem Parlament vorgelegt
worden wäre, bot Gladstone die Hand zu einem Kompromiß. Er ver-
ständigte sich persönlich mit Lord Salisbury, dem Führer der Tories und
der Oberhausmehrheit, und machte diejenigen Konzessionen, die unerläßlich
waren, um dem Oberhaus zu genügen, und die noch nicht zu weit gingen,
um die liberale Majorität im Unterhaus zu gefährden. Lord Salisbury ging
darauf ein, und die große Reform war gesichert. Wiederum hatte sich die
politische Erbweisheit der Engländer, wie König Friedrich Wilhelm IV.
den traditionellen politischen Common sense der Briten genannt hat,
glänzend bewährt. In der auswärtigen Politik stand bei meinem Eintreffen
in London die Mission im Vordergrunde, mit der General Gordonim Sudan
betraut worden war. Ganz England bangte für das Schicksal seines popu-
lären, geliebten und verehrten Generals.
Meinen ersten Besuch in London stattete ich selbstverständlich dem
Botschafter ab, dem damaligen Grafen, späteren Fürsten Münster. Er war
ein Original, auch äußerlich. Sehr lang, sehr mager, hatte er einen unverhält-
nismäßig großen Kopf, der an einen großen Kürbis auf einer langen Stange
erinnerte. Mit diesem Kopf pflegte Münster zu wackeln. Das gab ihm,
Graf
Münster