Full text: Bernhard Fürst von Bülow - Denkwürdigkeiten. Vierter Band. Jugend- und Diplomatenjahre. (4)

552 DER UNFEHLBARE 
An Disraäli hatte einmal eine Dame brieflich die Frage gestellt, die 
das gute Gretchen an Faust richtet: „Nun sag, wie hast du’s mit der 
Religion?“ Disra&li hatte geantwortet, ein weiser Mann sage nie, was 
er über Religion denke. Gladstone hatte ein viel näheres Verhältnis 
zur Religion. Er las, meditierte und kommentierte die Bibel. Es gibt ein 
köstliches Bild von Lenbach, das William Gladstone darstellt, wie er mit 
Ignaz Döllinger theologische Fragen bespricht. Es handelt sich offenbar um 
ein kniffliches Problem. Gladstone sieht nachdenklich ins Weite, Döllinger 
grübelt mit verschränkten Armen. Gladstone hatte viel von einem Theo- 
logen. Er lebte und webte in biblischen Vorstellungen. Disraeli hatte etwas 
Skeptisches. Gladstone entrüstete sich gern. Er hatte vor der Bildung des 
italienischen Nationalstaates die Regierungsweise im Königreich Neapel 
und im Kirchenstaat eine „Verleugnung Gottes“ gescholten. Nach den 
türkischen Exzessen in Bulgarien tobte er gegen den „unspeakable Turk“. 
Aber wie die Mehrzahl seiner Landsleute entrüstete sich Gladstone nur da, 
wo sein Zorn die englischen Interessen nicht ernstlich gefährdete. Er war 
bisweilen von dem Vorwurf der Heuchelei nicht ganz freizusprechen, in 
die Staatsmänner leicht verfallen, die auf einer ethischen Basıs stehen und 
doch die Interessen ihres Landes wahren wollen. 
Es hat nicht viele Staatsmänner gegeben, die von ihrer Unfehlbarkeit so 
überzeugt waren wie William Gladstone. Mein Freund Harding, wegen 
seiner tüchtigen und ausgebreiteten Kenntnisse im englischen diploma- 
tischen Dienst ‚The Professor‘ genannt und nicht zu verwechseln mit dem 
späteren Unterstaatssekretär im Foreign Office und Vizekönig von Indien, 
Hardinge, erzählte mir gelegentlich den nachstehenden kleinen Zug. Er war 
zu Tisch bei Gladstone eingeladen worden. Der große Mann hielt einen 
seiner gewohnten Monologe und setzte auseinander, daß es auf der Balkan- 
halbinsel nur zwei Völker gebe, die edlen Griechen und die abscheulichen 
Türken. Harding, der die Balkanhalbinsel aus eigener Anschauung kannte, 
machte in bescheidener Weise, fast schüchtern, darauf aufmerksam, daß 
auch Millionen von Slawen auf der südöstlichen europäischen Halbinsel 
lebten, Kroaten, Serben, Bulgaren, sodann auch Rumänen und Albanesen. 
Während Harding die Zahlen angab und diese verschiedenen Nationali- 
täten, ihre Vergangenheit, ihre Kultur, ihre Aspirationen charakterisierte, 
steckte ihm der aufwartende Diener im Auftrag von Mrs. Gladstone einen 
kleinen Zettel zu, auf den sie geschrieben hatte: „We never contradict 
Mr. Gladstone.““ 
Münster fuhr mich in seinem tadellos von ihm geleiteten Viererzug fast 
täglich zu irgendeinem sportlichen Vergnügen. Herbert gab mir vor meiner 
Abreise in Richmond ein Souper, zu dem er außer dem drolligen und 
brillanten Lord Charles Beresford und dessen reizender Frau die Staats-
	        
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