DER LÖWENKÄFIG 555
gesellschaftliche Verhältnisse. Die Fürstin schwärmte von Frau von Spitzem-
berg, der Frau des württembergischen Gesandten in Berlin, mit der sie seit
über zwanzig Jahren, seit der gemeinsamen Gesandtenzeit in St. Peters-
burg, befreundet sei und die sie immer als treu befunden habe. Auch die
mit Spitzemberg verwandten Familien Varnbüler, Hofacker, Erffa und Below
wurden gepriesen, dagegen die „greuliche, unausstehliche, affektierte Mimi“,
die Gattin des Hausministers Schleinitz, heftig geschmäht. Der große Fürst
lächelte beifällig und konstatierte, daß ihm der Gatte, der Hausminister
Graf Alexander Schleinitz, „fast ebenso widerwärtig‘“ sei wie Mimi. Als
Bill mich gegen Mitternacht in mein Zimmer brachte, meinte er mit Humor
und behaglich lächelnd: ‚‚So viel wie bei uns wird doch in keinem andern
Hause geschimpft.““ Ich erwiderte ihm, daß es im Löwenkäfig anders aus-
sehe als im Schafstall oder im Hühnerhof.
Als ich am nächsten Morgen in meinem Zimmer bei meinem sehr reich-
lichen ersten Frühstück saß, trat der Fürst ein. Eı setzte sich mir gegenüber
mit den Worten: „Lassen Sie sich in Ihrem Vergnügen nicht stören, sondern
essen Sie ruhig Ihre Eier. Hoffentlich sind sie richtig gekocht.“ Dann fuhr
er fort: „Sind Sie sehr außer sich, daß Sie statt nach London nach Peters-
burg. kommen ? London ist als Wohnort freilich angenehmer. Und Paris zu
verlassen, wird Ihnen wohl auch nicht leicht? Wie dem auch sein möge,
Sie machen gute Miene zum bösen Spiel und spielen sich nicht auf den
Pikierten, was immer das klügste ist.‘“ Ich erwiderte, ich fände es ganz
interessant, daß ich, nachdem ich vor nicht allzu langer Zeit in der Wüste
bei Biskra spazierengeritten sei, mich jetzt am Anblick des Finnischen
Meerbusens und binnen kurzem an der zugefrorenen Newa ergötzen würde.
Der Fürst nickte und kam sogleich auf unsere auswärtige Lage. „Unsere
Politik ist und bleibt eine Friedenspolitik. Wir haben gar keinen Grund,
einen Krieg zu wünschen, denn ich sehe nicht ein, was wir bei einem Kriege
zu gewinnen hätten. Die Annexion von Deutschösterreich oder gar der bal-
tischen Provinzen oder vollends der Holländer oder Schweizer würde für
uns nur eine Schwächung bedeuten. Und sogenannte prophylaktische
Kriege zu führen, das heißt über einen andern herzufallen, damit er, noch
stärker geworden, nicht über mich herfalle, halte ich, wie Ihnen Ihr Herr
Vater gesagt haben wird, der darin mit mir übereinstimmte, nicht allein für
unchristlich, sondern auch für politisch unvernünftig. Wohin ist Napoleon I.
mit seinen prophylaktischen Kriegen gekommen ? Man weiß, wie manineinen
Krieg hineinkommt! Aber man weiß nie, wie man aus ihm herauskommen
wird. Dreimal hat Gott uns den Sieg verliehen. Das war viel Gnade. Es ohne
zwingenden Grund zu einem vierten Kriege kommen zu lassen, hieße Gott
versuchen. Die Aufrechterhaltung des Friedens deckt sich mit unserem
Interesse. Natürlich müssen wir unser Schwert scharf erhalten. Unsere
Bismarck
über
prophylak-
tische Kriege