Full text: Bernhard Fürst von Bülow - Denkwürdigkeiten. Vierter Band. Jugend- und Diplomatenjahre. (4)

556 DER PIVOT 
politische Stellung, Macht, Ehre und Reichtum verdanken wir in erster Linie 
der Armee. Die Armee sichert auch die monarchische Ordnung der Dinge, 
die einzige solide Basis des Reichs, der Ordnung und unseres zunehmenden 
Wohlstandes. Der Pivot unserer Stellung und damit unserer Politik, der 
Punkt, auf den es am meisten ankommt, ist unser Verhältnis zu Rußland. 
Die Franzosen werden uns nur angreifen, wenn wir mit Rußland in Krieg 
geraten sind, dann aber ganz sicher. Was die Engländer angeht, so haben sie 
überhaupt keinen Grund, uns anzugreifen, wenn sie auch anfangen, neidisch 
auf unser industrielles Wachstum und unsere kommerziellen Fortschritte 
zu werden. Der Engländer ist wie der Hund in der bekannten Fabel, der es 
nicht vertragen konnte, daß ein anderer Hund auch ein paar Knochen vor 
sich hat, obwohl er selbst, der fette Köter, vor einer ganz vollen Schüssel 
sitzt. An einen englischen Angriff ist nur zu denken, wenn wir uns sowohl 
mit Rußland wie mit Frankreich im Kriege befänden oder irgendeinen kom- 
pletten Unsinn machen würden, wie Holland oder Belgien zu überfallen, oder 
die Ostsee zu schließen durch Okkupation des Sundes, oder einen sonstigen 
Blödsinn, mit dem nicht zu rechnen ist. Also Petersburg ist jetzt für uns der 
wichtigste diplomatische Posten. Darum habe ich Sie dorthin gesetzt. 
London und Paris sind doch mehr Beobachtungsposten. In Ländern, wo im 
letzten Ende das Parlament entscheidet, kann der Diplomat nicht allzuviel 
machen. In einem Lande, wo es in erster Linie auf den Souverän ankommt, 
steht die Sache anders. Auch der größte Autokrat handelt nie nur nach 
eigener Eingebung, wenn er sich dies auch bisweilen einbildet. Er wird 
immer eine Frau haben, eine Mätresse, Brüder, Vettern, Tanten, Günst- 
linge, Flügeladjutanten und Kammerherren, die ihn mehr oder weniger 
beeinflussen. Da kann der Diplomat Positives leisten und erreichen. 
Gortschakow sind wir ja Gott sei Dank losgeworden. Sein Nachfolger, Herr 
von Giers, ist kein Held, aber jedenfalls wohlgesinnt. Ich halte ihn für ehr- 
lich, dem Gortschakow bei weitem vorzuziehen. Ich halte auch AlexanderllI. 
für loyal. Daß er uns nicht so wohlgesinnt ist wie sein Herr Vater, ist kein 
Unglück. Denn gerade weil Alexander II. bis über die Ohren in der Tra- 
dition der Freiheitskriege stak, war er so empfindlich für alles, was er mit 
Unrecht als eine Abweichung von den Prinzipien der Heiligen Allianz be- 
trachtete. Er war wie eine Frau, die, weil sie in ihren Mann früher sehr ver- 
liebt war, ihn noch bis in sein hohes Alter mit Empfindlichkeit und Eifer- 
sucht verfolgt und immer fragt: ‚Hast du mich noch lieb ?‘ Mit AlexanderllI. 
ist, wie ich glaube, ein ruhiges, klares Nachbarverhältnis ganz gut möglich. 
Weisen Sie in Petersburg nur immer darauf hin, daß kein Mensch wissen 
kann, wie ein kriegerischer Zusammenstoß zwischen den drei Kaiser- 
mächten militärisch verlaufen würde. Aber eins ist sicher: Die drei 
Dynastien, die drei Monarchen würden voraussichtlich die Zeche
	        
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