Full text: Bernhard Fürst von Bülow - Denkwürdigkeiten. Vierter Band. Jugend- und Diplomatenjahre. (4)

HERR VON GIERS 565 
sich wie ein Gentleman und machte der reichsten für ihn zugänglichen 
Erbin den Hof. Auch deren Schicksal war merkwürdig gewesen. Sie war die 
Adoptivtochter des Bankiers Stieglitz, die vor dessen Haus, in bescheidene 
Windeln eingewickelt, als eben geborenes Kind von den Hausknechten, den 
Dvorniks, an einem kalten Wintermorgen gefunden worden war. Stieglitz 
stammte aus Hannover. Es wurde erzählt, daß in alter Zeit, long ago, zwei 
kleine, aber intelligente Judenknaben die Stadt an der Leine verlassen 
hätten, um in. der Welt ihr Glück zu suchen. Der eine ging nach Hamburg 
und wurde der Ältervater der dort und von dort aus in Paris florierenden 
Bankierfamilie Heine. Der andere ging nach St. Petersburg und gründete 
das Bankhaus Stieglitz. 
Als sich Polowzow nach angeregter Konversation mit Schweinitz und 
mir entfernt hatte, sagte mir der Botschafter: ‚Sie bringen für St. Peters- 
burg eine wertvolle Gabe mit. Sie sprechen sehr gut Französisch. Das ist der 
Schlüssel zum Herzen der Petersburger Upper ten thousand. Nun brauchen 
Sie nur noch den leading ladies der St. Petersburger Gesellschaft den Hof 
zu machen, und Sie haben gewonnenes Spiel.‘ Als ich erwiderte, daß ich 
hierzu aus verschiedenen Gründen wenig Lust verspürte, lächelte der welt- 
kundige General: ‚„Desto besser. Sie kennen doch Goethe? Gerade der, dem 
wenig daran zu liegen scheint, ob er reizt, ‚ob er rührt, der beleidigt, der 
verführt‘.““ 
Einige Tage später fuhr ich nach Gatschina, dem nicht allzu weit von 
St. Petersburg entfernten, düsteren, aber vor nihilistischen Attentaten am 
leichtesten zu schützenden Lieblingsschloß des Kaisers Alexander III., um 
mich als deutscher Geschäftsträger dem Minister des Äußern, Herrn von 
Giers, vorzustellen, der, wenn der Kaiser in Gatschina residierte, auch dort 
zu weilen pflegte. Nikolai Karlowitsch von Giers, damals vierundsechzig 
Jahre alt, machte äußerlich einen kümmerlichen Eindruck. Vor der Zeit 
ergraut, nachlässig angezogen, immer in gebeugter Haltung, besaß er nicht 
im entferntesten den Aplomb eines Schuwalow oder Orlow, eines Lobanow 
oder Ignatjew. Er hatte seine Laufbahn im Konsulardienst begonnen und 
war dann Gesandterin Bern und Stockholm gewesen. Seine Feinde behaup- 
teten, er sei jüdischer Extraktion und heiße eigentlich Hirsch. In Wirk- 
lichkeit war sein Großvater, ein kleiner schwedischer Edelmann, aus 
Schweden über Finnland nach Rußland gekommen. Giers war in Rußland 
nicht populär. Er wußte das. „Meine Familie‘, pflegte er zu sagen, „führt 
im Wappen einen kleinen Fisch, der gegen den Strom schwimmt. Das ist 
auch mein Los.‘ Bei aller Unscheinbarkeit war Giers der beste, weiseste 
Minister des Äußern, den das Zarenreich seit Nesselrode gehabt hat. Drei 
Jahre später sagte mireinmal der Großfürst Wladimir in einem vertraulichen 
Gespräch: „Wie alle Welt, habe auch ich früher auf Nikolai Karlowitsch 
Fahrt nach 
Gatschina
	        
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