Pobjedonos-
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574 DER OBERPROKURATOR
werden von den Stadt- und Landgemeinden auf drei Jahre gewählt. Sie
haben sich mit der Entwicklung der Landwirtschaft, der Industrie, des
örtlichen Handels, mit dem Wege- und Brückenbau, mit der Armenpflege
und der Pflege der Volksgesundheit zu beschäftigen. Sie haben die Vulks-
schule zu unterhalten. Die Kreis- und Landtage sollen die Mißbräuche der
bis 1864 allmächtigen Bürokratie kontrollieren und abstellen. Die Semstwos
sollen in der Bevölkerung das Interesse für Verwaltung und öffentliche
Angelegenheiten, das noch recht gering ist, wecken und fördern. Sie legen
uns große finanzielle Opfer auf, aber sie haben in vielen Teilen von Rußland
segensreich und erzieherisch gewirkt. Auf dieser Grundlage gilt es fort-
Der Minister, ein zweifellos geistig hochstehender und dabei
eloquenter Herr, hatte sich mehr und mehr animiert, fast begeistert. Ich
erlaubte mir die bescheidene Bemerkung, ob es sich nicht empfehlen würde,
während des Ausbaus der gewiß großartigen Semstwo-Pläne in Rußland
jene Garantien für persönliche Freiheit, Rechtssicherheit und religiöse
Toleranz zu schaffen, die in allen anderen europäischen Ländern seit
langem bestünden. „Gewiß!“ erwiderte Graf Tolstoi. „Oh, gewiß! Aber
zunächst müssen wir dem Nihilismus den Garaus machen. Nous sommes
dans la bonne voie.‘“ Ich war zu wohlerzogen, um dem weit älteren, viel
erfahreneren Staatsmann zu sagen, daß er sich in einem Circulus vitiosus
bewege. Durch sein absolutistisches, allzu drakonisches Polizeisysteni stärke
zubauen !“
er die revolutionäre Bewegung, die zu unterdrücken doch sein ganzes
Bestreben sei.
Ich bin Graf Tolstoi noch mehrfach begegnet. Er war für mich von immer
gleicher Freundlichkeit. Er stellte mich in seinem Hause dem, wie cs
allgemein hieß, nach dem Zaren mächtigsten Mann in Rußland vor, dem
Oberprokurator des Heiligen Synods. Konstantin Petrowitsch
Pobjedonoszew war damals achtundfünfzig Jahre alt. Er hatte äußerlich
eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Konsistorialpräsidenten Immanuel Hegel,
dem Sohn des großen Philosophen. Äußerlich! Und soweit ein Urrusse einem
Deutschen gleichen kann. Ich habe den Suhn Hegel oft vor mir geschen,
wenn ich Sonntags den Gottesdienst in der Berliner Matthäikirche besuchte,
dem auch er beizuwohnen pflegte. Pubjedonoszew war einer der gebildetsten
Menschen, denen ich begegnet bin. Er verfügte nicht nur über eine aus-
gebreitete, sondern auch über eine gründliche Bildung. Er war ein Kenner
unserer Literatur, die er huch über die französische stellte. Er zitierte nicht
nur den „Faust“, sondern auch Schillers „Briefe über die ästhetische Er-
ziehung des Menschengeschlechts“ und „Wilhelm Meisters Wanderjahre‘“,
Seinen Standpunkt gegenüber den religiösen Problemen pflegte er mir etwa
so zu entwickeln: „Einer unserer größten Denker, Sulowjew, hat die
katholische Kirche petriuisch, die evangelische paulinisch, die orthodoxe