DER NIEMALS NÜCHTERNE GENERALADJUTANT 577
ihrem schönen Palais an der Newa schloß ich Freundschaft mit dem maß-
gebendsten Manne in der Umgebung des Kaisers Alexander III., dem
Generaladjutanten Tscherewin. Er hatte für die persönliche Sicherheit
des Zaren zu sorgen, und er hat mit Erfolg für sie gesorgt. Das war um so
anerkennenswerter, ja staunenswerter, als Tscherewin selten ganz nüchtern
war. Ich habe in unserem lieben Vaterlande und in anderen Ländern
manchen erprobten Trinker gekannt, einen vollendeteren Saufbruder als
Tscherewin nie und nirgends. Nach dem Diner, das in Petersburg meist um
neun Uhr begann, pflegte er im Klub oder wo er eingeladen war, aus
Bordeauxgläsern Anisette zu trinken. Das dauerte bis zwölf, auch bis ein
Uhr nachts. Schwankenden Schrittes empfahl er sich, fuhr nach Hause und
trank dort, bis die Sonne aufging, aus Wassergläsern schlechten kaukasischen
Landwein. Nach einigen Stunden Schlaf hielt er seinen mit einem hängenden
Schnurrbart gezierten Kopf unter das eiskalte Wasser einer Pumpe und fuhr
dann nach Gatschina zum „Daklot‘“, zum Vortrag beim Zaren. Der Zar
mochte ihn. Er schätzte seine Treue, die Treue eines Neufundländers, seinen
gesunden Menschenverstand, seine unbändige Courage. Er hatte mehr als
einmal bewiesen, daß er jeder Situation gewachsen war. Unter den vielen
Supplikanten, die Tscherewin täglich empfangen mußte, hatte einmal ein
schwarzhaariger Armenier in dem Augenblick, wo er dem General mit der
linken Hand eine Bittschrift überreichte, mit der Rechten einen Revolver
auf ihn gerichtet. Blitzschnell erfaßte Tscherewin die Hand des Attentäters
und drehte sie mit eiserner Faust um, so daß das Handgelenk zerbrach.
Dann übergab er den herbeigerufenen Kosaken vom Leibkonvoi den
blutenden und heulenden Meuchelmörder, der im Laufe desselben Tages
gehängt wurde.
Die Freundschaft mit Tscherewin aufrechtzuerhalten, war nicht ganz
leicht. Es setzte voraus, daß ich von Zeit zu Zeit ihn, der dann schon stark
bezecht war, um Mitternacht in seine Wohnung brachte und ihm dort bis
fünf, bisweilen sechs Uhr morgens Gesellschaft leistete, wobei ich dem
gräßlichen Kaukasierwein zusprechen mußte, den er in unglaublichen
Quantitäten vertilgte. Aber in der Betrunkenheit schwätzte Tscherewin,
der in seiner Stellung alles erfuhr, was vorging, vieles aus und manches
Interessante. Er sagte auch Kluges. ‚‚Voila le secret de la situation‘, sagte
er mit lallender Stimme. „L’Empereur — est — peu — intelligent. Mais il
est immuable comme un roc. Il veut la paix, fermement, fortement,
absolument. Il veut la paix pour plusieurs raisons. Une de ces raisons est
que L’Empereur deteste monter a cheval pour des raisons physiques, &
cause d’une hernie.‘“ Ähnlich wie Giers sagte mir auch Tscherewin:
„L’Empereur n’aime pas les Allemands, mais il n’aime pas mieux les
Francais et les Anglais. Prenez en votre parti. Par contre, l’Empereur aime
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Tscherewin