Object: Bernhard Fürst von Bülow - Denkwürdigkeiten. Vierter Band. Jugend- und Diplomatenjahre. (4)

DER NIEMALS NÜCHTERNE GENERALADJUTANT 577 
ihrem schönen Palais an der Newa schloß ich Freundschaft mit dem maß- 
gebendsten Manne in der Umgebung des Kaisers Alexander III., dem 
Generaladjutanten Tscherewin. Er hatte für die persönliche Sicherheit 
des Zaren zu sorgen, und er hat mit Erfolg für sie gesorgt. Das war um so 
anerkennenswerter, ja staunenswerter, als Tscherewin selten ganz nüchtern 
war. Ich habe in unserem lieben Vaterlande und in anderen Ländern 
manchen erprobten Trinker gekannt, einen vollendeteren Saufbruder als 
Tscherewin nie und nirgends. Nach dem Diner, das in Petersburg meist um 
neun Uhr begann, pflegte er im Klub oder wo er eingeladen war, aus 
Bordeauxgläsern Anisette zu trinken. Das dauerte bis zwölf, auch bis ein 
Uhr nachts. Schwankenden Schrittes empfahl er sich, fuhr nach Hause und 
trank dort, bis die Sonne aufging, aus Wassergläsern schlechten kaukasischen 
Landwein. Nach einigen Stunden Schlaf hielt er seinen mit einem hängenden 
Schnurrbart gezierten Kopf unter das eiskalte Wasser einer Pumpe und fuhr 
dann nach Gatschina zum „Daklot‘“, zum Vortrag beim Zaren. Der Zar 
mochte ihn. Er schätzte seine Treue, die Treue eines Neufundländers, seinen 
gesunden Menschenverstand, seine unbändige Courage. Er hatte mehr als 
einmal bewiesen, daß er jeder Situation gewachsen war. Unter den vielen 
Supplikanten, die Tscherewin täglich empfangen mußte, hatte einmal ein 
schwarzhaariger Armenier in dem Augenblick, wo er dem General mit der 
linken Hand eine Bittschrift überreichte, mit der Rechten einen Revolver 
auf ihn gerichtet. Blitzschnell erfaßte Tscherewin die Hand des Attentäters 
und drehte sie mit eiserner Faust um, so daß das Handgelenk zerbrach. 
Dann übergab er den herbeigerufenen Kosaken vom Leibkonvoi den 
blutenden und heulenden Meuchelmörder, der im Laufe desselben Tages 
gehängt wurde. 
Die Freundschaft mit Tscherewin aufrechtzuerhalten, war nicht ganz 
leicht. Es setzte voraus, daß ich von Zeit zu Zeit ihn, der dann schon stark 
bezecht war, um Mitternacht in seine Wohnung brachte und ihm dort bis 
fünf, bisweilen sechs Uhr morgens Gesellschaft leistete, wobei ich dem 
gräßlichen Kaukasierwein zusprechen mußte, den er in unglaublichen 
Quantitäten vertilgte. Aber in der Betrunkenheit schwätzte Tscherewin, 
der in seiner Stellung alles erfuhr, was vorging, vieles aus und manches 
Interessante. Er sagte auch Kluges. ‚‚Voila le secret de la situation‘, sagte 
er mit lallender Stimme. „L’Empereur — est — peu — intelligent. Mais il 
est immuable comme un roc. Il veut la paix, fermement, fortement, 
absolument. Il veut la paix pour plusieurs raisons. Une de ces raisons est 
que L’Empereur deteste monter a cheval pour des raisons physiques, & 
cause d’une hernie.‘“ Ähnlich wie Giers sagte mir auch Tscherewin: 
„L’Empereur n’aime pas les Allemands, mais il n’aime pas mieux les 
Francais et les Anglais. Prenez en votre parti. Par contre, l’Empereur aime 
37 Bülow IV 
Tscherewin
	        
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