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der Debatte mit seinen Gegnern abrechnet, geht er auf die Ausführungen
des Pruvinz-Mirabeau überhaupt nicht ein, da sie zu unbeträchtlich seien.
Als dies im Heimatsnest bekannt wird, entsteht allgemeine und große
Erregung: „Was! Unser Abgeordneter wird vom großen Bismarck nicht
einmal einer Antwort gewürdigt? Was muß der für ein Schaf sein! Denn
Bismarck weiß schließlich doch alles am besten!“ Die Dummheit des
Hödur, des Wählers, der sich immer wieder von dem listigen Loki mit der
Hornbrille auf der Nase und dem Zettelkasten auf dem Schreibtisch ver-
führen läßt, ist selten amüsanter persifliert worden. Und einer der feinsten
Geister dieser Zeit, der Verfasser der „Sperlingsgasse‘“ und des „Hunger-
pastor“, Wilhelm Raabe, schrieb: „Deutsches Volk? Ach was! Deutsch
redender oder schwätzender Bevölkerungsbrei, für einen kurzen Augenblick
von ein paar großen Männern in eine staatliche Form gepreßt! Morgen
vielleicht sind sie tot, diese Männer, und der Brei fließt wieder auseinander,
. und die Fremden mögen dreist wieder von allen Seiten mit ihren Löffeln
Fackelzug
Gratulation
im Reichs-
kanzlerpalais
vorrücken, zur Wiederaufrichtung und Herstellung der hergebrachten
Freiheiten teutscher Nation.‘ Eine ungerechte Kritik, soweit es sich um die
breite Masse des deutschen Volkes handelt, um Bauern und Arbeiter, um das
fleißig schaffende Bürgertum. Aber eine leider nur zu berechtigte Klage
über viele deutsche Intellektuelle, denen wie die leidenschaftliche Vater-
landsliebe der Romanen so auch der unerschütterliche Nationalstolz und
der praktische Sinn der Amerikaner und Engländer versagt ist und die
immer wieder in Eigenbrötelei, blinden Doktrinarismus und Starrköpfigkeit
verfallen.
Am Abend des 31. März 1885 fand ein Fackelzug statt, der durch die
Wilhelmstraße am Reichskanzlerpalais vorbeimarschierte. Bismarck stand
am Fenster einer im ersten Stock des linken Flügels des Reichskanzler-
palais gelegenen Eckstube. Damit die Vorüberziehenden ihn gut sehen
könnten, hielt der starke Herbert während des ganzen Vorbeimarsches eine
Lanıpe über dem gewaltigen Haupt seines Vaters. Aus den Augen der
vorübermarschierenden Fackelträger leuchtete Freude, leuchtete Be-
geisterung. Der Ausdruck der Züge, der Augen, des Antlitzes des Fürsten
Bismarck läßt sich nicht schildern. Den Eindruck, den dieses Antlitz am
Abend des 31. März 1885 auf mich machte, habe ich nur wiederempfunden,
wenn ich vor dem Hamburger Denkmal Bismarcks stand, das Hugo Lederer
geformt hat.
Am Vormittag des 1. April 1885 empfing der Fürst im großen Saal des
Reichskanzlerpalais die Gratulanten. In demselben Saal, in dem sieben
Jahre früher der Berliner Kongreß getagt hatte und in dem dreißig Jahre
später Bethmann einer polnischen Deputation in unseliger Verblendung
die Wiederherstellung eines polnischen Reichs in Aussicht stellen sollte.