Die
Einkreisung
610 DER KOMMENDE HERR
Die Gräfin, eine Amerikanerin, glich innerlich und äußerlich jenen vortreff-
lichen Engländerinnen und Amerikanerinnen, denen ich öfters bei meiner
Mutter begegnete, die sich an ihrer Frömmigkeit erbaute. Nach dem Essen,
bei dem die beiden Generäle einem guten Moselwein kräftig zugesprochen
hatten, streckten wir uns ins Gras. Waldersee examinierte mich über rus-
sische Verhältnisse. Die Fragen, die er an mich stellte, waren klug gewählt.
Es fiel mir auf, daß er im Gegensatz zu manchen anderen hochstehenden
Leuten gut zuhörte und daß der Generalquartiermeister dem um siebzehn
Jahre jüngeren Botschaftsrat dessen Widerspruch nicht übelnahm. Er
bezweifelte die persönliche Friedensliebe des Zaren wie die Ehrlichkeit von
Giers, an die ich so weit glaubte, wieman fremden Souveränen und Ministern
überhaupt trauen kann. Er war der Ansicht, daß der Krieg mit Rußland
sich höchstens noch zwei oder drei Jahre werde vermeiden lassen, und
meinte, daß die politischen und militärischen Chancen heute für uns
günstiger lägen, als dies in einigen Jahren der Fall sein würde. Er sprach
von Bismarck mit kaum verhehltem Haß als von einem Mann, der, nachdem
er seine Lebensaufgabe erfüllt habe, nach außen und nach innen als grund-
satzloser Opportunist von der Hand in den Mund lebe und dadurch unsere
Zukunft schwer belaste. Den Kronprinzen betrachtete er als einen tod-
kranken Mann, was ihn nicht übermäßig zu betrüben schien, er stimmte aber
ein begeistertes Loblied auf dessen ältesten Sohn, den Prinzen Wilhelm, an.
Mit diesem offenherzigen, guten, ehrlichen jungen Mann sei nicht schwer
auszukommen. Der sei ein echter Hohenzoller, seinem Großvater
ähnlich. „Wenn Bismarck nicht mit dem auskommen sollte, so wird er die
Schuld tragen, nicht Prinz Wilhelm. Mit dem Prinzen Wilhelm kann und
muß sich jeder brave Preuße, jeder Soldat und jeder gute Christ verstehen.‘
Während wir so ernste und weitreichende Fragen erörterten, breitete sich
der Vierwaldstätter See mit seinen glitzernden Wellen vor uns aus. Jenseits
des Sees erhoben sich Berge mit friedlichen, sonnenbeschienenen Matten
und über ihnen Schneegipfel im blauen Duft. Im Grase zirpten Grillen. Die
Szenerie unserer Unterredung war ein Idyll, würdig, von Theokrit, dem
Bukoliker, besungen zu werden.
Als wir uns in Axenstein von Waldersee verabschiedeten, forderte er
mich auf, ihn in Berlin zu besuchen, er würde sich immer freuen, mich zu
sehen. Auf dem Rückweg nach Seelisberg kam Lo& unter vier Augen
nochmals auf die Frage zu sprechen, ob wir bei der sich immer ernster
gestaltenden internationalen Lage unseren Gegnern zuvorkommen und,
sei es gegen Rußland, sei es gegen Frankreich, vorgehen, den einen von
ihnen entscheidend schlagen und dann auch den andern unschädlich
machen sollten. „Wir sind“, meinte der General, „tatsächlich ein-
gekreist, denn Frankreich steht uns seit dem Frankfurter Frieden