Full text: Bernhard Fürst von Bülow - Denkwürdigkeiten. Vierter Band. Jugend- und Diplomatenjahre. (4)

48 VERSUNKENE WELT 
Meine Großmutter war voll Leben und geistiger Interessen. Solange sie 
noch leidlich rüstig war, vereinigten sich abends bei ihr und ihren Töchtern 
die Professoren des Gymnasiums, Beamte, Gutsbesitzer aus der Umgegend. 
Es wurde mit verteilten Rollen Shakespeare gelesen, an dessen Über- 
setzung der Bruder Wolf einen so hervorragenden Anteil gehabt hatte. 
Später las sie für sich allein Bücher in allen Sprachen. In einer noch schreib- 
lustigen Zeit schrieb sie viele Briefe. Ihre Häuslichkeit war für moderne Be- 
griffe eng, aber sie atmete ein Gefühl der Stille, der Ordnung, der Zufrieden- 
heit. In Plön nannte man sie die Frau Kammerherrin. Sie war nicht die 
einzige Kammerherrin in der kleinen Stadt, aber sie,war die Kammerherrin 
katexochen. „Ich bin“, schrieb Johanna Schopenhauer im Dezember 1807 
an ihren großen Sohn, ‚still für mich, niemand widerspricht mir, ich wider- 
spreche niemandem, kein lautes Wort hört man in meinem Haushalt, alles 
geht seinen einförmigen Gang, ich gehe den meinen, nirgends merkt man, 
wer befiehlt und wer gehorcht, jeder tut das seine in Ruhe, und das Leben 
gleitet so hin, ich weiß nicht wie.“ Meine Großmutter hätte dasselbe 
schreiben können. Sie hinterließ mir die Korrespondenz ihrer Vorfahren 
Baudissin und Dernath. Aus den Briefen, die einen ganzen Koffer füllen, 
redet eine versunkene Welt. Sie sind in einem zierlichen Französisch ge- 
schrieben und sprechen nur von Kopenhagener Hofvorgängen, in welcher 
Laune sich Seine Majestät beim Lever befunden habe und wer die Ehre 
gehabt habe, abends zum Jeu de la Reine befohlen zu werden. Noch in der 
zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts folgten im holsteinischen 
Adel oft in derselben Familie die einen der schleswig-holsteinischen Fahne, 
die anderen dem Danebrog. 
Von den Söhnen des Grafen Magnus Scheel-Plessen, der ein Vetter 
meiner Großmutter war, blieben der älteste, Wulf, und der jüngste, Otto, 
während des Schleswig-Holsteinischen Krieges und auch später, 1866 und 
1870, ım dänischen Dienste, der älteste als dänischer Gesandter in Stock- 
holm, der jüngste als dänischer Vertreter in St. Petersburg. Der zweite, 
Karl, opponierte vor 1864 den Eiderdänen, aber im Rahmen der Gesamt- 
staats-Idee, stellte sich nach dem Wiener Frieden an die Spitze der Deputa- 
tion, die in Berlin für die Einverleibung der Herzogtümer in die preußische 
Monarchie plädierte, und wurde der erste preußische Oberpräsident der 
Provinz Schleswig-Holstein. Als er als solcher im Preußischen Abgeord- 
netenhause von dem Abgeordneten Lasker wegen seiner Haltung in den 
fünfziger Jahren angegriffen wurde, verteidigte ihn Bismarck mit großer 
Schärfe. Fürst Bismarck hat sich mit den früheren Anhängern der Gesamt- 
staats-Idee immer trefflich abgefunden; die halb partikularistische, halb 
liberale „Augustenburgerei‘‘, wie er sie nannte, war ihm antipathisch. Einer 
der leidenschaftlichsten Ausbrüche, zu denen Bismarck sich in der Debatte
	        
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