Full text: Bernhard Fürst von Bülow - Denkwürdigkeiten. Vierter Band. Jugend- und Diplomatenjahre. (4)

640 DER ZAR UND DIE MARSEILLAISE 
wurde. Großfürst Alexej Alexandrowitsch, General-Admiral und oberster 
Chef der Flotte, gab dem Admiral Gervais, seinem Stabe und den Kom- 
mandanten der französischen Schiffe ein glänzendes Diner. Der Kaiser 
und die Kaiserin besuchten das Admiralschiff ‚„Marengo“‘. Auf einem Diner, 
das zu Ehren des französischen Geschwaders in Peterhof stattfand, 
brachte der Kaiser einen Toast auf den Präsidenten der Französischen 
Republik aus. Darauf spielte die russische Musik die Marseillaise, die der 
Kaiser stehend und mit entblößtem Haupt anhörte. Kaiser Wilhelm, der 
leider nur zu oft das Kleine zum Großen aufzubauschen suchte und das 
wirklich Wichtige nicht zu würdigen wußte, hat mehr als einmal un- 
bedeutende Ereignisse als „historische Merksteine‘“ gefeiert. Der Augen- 
blick, wo der russische Zar vor dem Sturmlied der Französischen Re- 
volution den Helm abnahm, war ein wirklich historischer Moment. Er be- 
zeichnete das Ende einer nicht nur auf politische Interessen, sondern auch 
auf starke Gefühle basierten Freundschaft zwischen Preußen-Deutschland 
und Rußland, die achtzig Jahre gedauert hatte. Mit Vorsicht und Geschick- 
lichkeit waren Bruch und Krieg mit Rußland noch immer zu vermeiden, 
aber alle Welt fühlte, daß es nicht mehr das alte Verhältnis zwischen den 
beiden nordischen Reichen war. In einem Telegramm an den Präsidenten 
Carnot sprach der Zar von den „tiefen Sympathien‘“, die Frankreich und 
Rußland vereinigten. Auch in Moskau wurde Admiral Gervais mit seinen 
Offizieren feierlich und enthusiastisch empfangen. Er schloß seinen Toast 
auf dem ihm zu Ehren gegebenen Bankett echt französisch mit den 
Worten: „Auf Sie und auf uns ist jetzt die Aufmerksamkeit der ganzen 
Welt gerichtet. Ich trinke auf das heilige Moskau, das große russische Volk 
und seinen erhabenen Zaren.“ Der früher gemaßregelte, jetzt reaktivierte 
General Tschernajew antwortete unter Anspielung auf deu Refrain der 
Marseillaise: „Ruft man bei Ihnen: ‚Aux armes, citoyens!‘, so geschieht es 
auch bei uns. Formez vos bataillons! Wir Russen werden unsere Ba- 
taillone von der Weichsel bis Kamtschatka formieren. Ich trinke auf das 
ritterliche französische Volk und auf Paris, die Hauptstadt der zivilisierten 
Welt!“ Gervais erwiderte, daß, „stark durch die Freundschaft eines 
großen und mächtigen Monarchen“, Frankreich zuversichtlich in die Zu- 
kunft blicke. Kein Mensch in Europa zweifelte daran, daß in diesen Tagen 
ein russisch-französischer Allianz-Vertrag und entsprechende Militär- 
Konventionen abgeschlossen worden waren. Der bisherige Botschafter 
Frankreichs, Laboulaye, ein harmloser und phlegmatischer Herr, wurde 
abberufen. An seine Stelle trat einer der brillantesten französischen Diplo- 
maten, Graf Montebello, mit einer liebenswürdigen und eleganten Frau. 
Die Welt hatte in wenigen Monaten ein anderes Gesicht angenommen. 
Auch Wilhelm II. konnte sich den Konsequenzen seiner Kündigung des
	        
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