Full text: Bernhard Fürst von Bülow - Denkwürdigkeiten. Vierter Band. Jugend- und Diplomatenjahre. (4)

„KOMM, HERR JESUM“ 651 
einen Rivalen für den Reichskanzlerposten witterte, den er selbst mit 
heißem Bemühen erstrebte. 
Als ich mich von König Karl verabschiedete, sagte er zu mir, Rom dürfte 
nur ein Übergangsposten für mich sein. Ich würde, wie er glaube und hoffe, 
in fünf Jahren Reichskanzler sein. Ich trennte mich ungern von dem weisen 
und gütigen König, an den ich mich wie einst an den Fürsten Chlodwig 
Hohenlohe herzlich attachiert hatte. Ungern verließ ich Rumänien, wo ich 
mit meiner Frau sechs stille und glückliche Jahre verlebt hatte. Und 
schmerzlich wurde mir der Abschied von den herrlichen Wäldern, die Sınaia 
umgeben. Oft war ich zur Stina emporgestiegen, von wo aus man einen 
prachtvollen Rundblick auf das Tal der Prahova hat. Mehr als einmal 
hatte ich den Wurfucudor erstiegen, von dem man gleichzeitig auf Ru- 
mänien und Siebenbürgen hinabblickt. Infolge einer Wette habe ich den 
Wurfucudor an einem, übrigens nicht zu heißen Septembertage zweimal 
bestiegen. Um sechs Uhr früh verließ ich Sinaia, langte um neun Uhr oben 
an, wo ich eine Stunde verbrachte. Um zehn Uhr machte ich mich auf den 
Heimweg. Um zwölf traf ich wieder in Sinaia ein, aß und machte mich 
gegen zwei Uhr zum zweitenmal auf die Strümpfe, genoß um sechs Uhr 
nochmals die herrliche Aussicht und war um neun Uhr wieder im „Hotel 
Joseph‘ in Sinaia, einem kleinen Gasthof, der von einem biederen Öster- 
reicher gehalten wurde und, wie dreizehn Jahre früher der Gasthof von 
Sankt Wolfgang, an das „Weiße Rößl“ in dem bekannten Lustspiel 
erinnerte. 
In Berlin, wo ich mich vor Antritt meines neuen Postens bei Kanzler 
und Staatssekretär meldete, sah ich meine liebe gute Mutter zum letzten- 
mal in diesem Leben. Sie hatte rasch hintereinander zwei Schlaganfälle 
erlitten, die sie, die zweiundsiebzigjährige Frau, sehr mitgenommen hatten. 
Als ich von ihr Abschied nahm, ergriff sie meine Hand und sagte zu mir, 
mit einem flehenden und ergreifenden Blick: „Bernhard, laß den Herrn 
Jesum nicht!“ Sie starb am 29. Januar 1894, sanft und ohne Todeskampf, 
mit den Worten: „Komm, Herr Jesu!“ Wir haben sie auf dem Zwölf- 
Apostel-Kirchhof in Berlin beigesetzt, zwischen meinem Vater und ihrer 
beider einzigen Tochter. 
Abschied von 
Bukarest 
Tod von 
Bülows Mutter
	        
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