Malvano
und Sonnino
Ratazzi
656 ITALIENISCHE REGIERUNGSMÄNNER
in den Kreisen der Frankfurter Diplomaten hervorrief. Wir standen am
7. Juni vor dem Eingang zum Zoologischen Garten. Ein Extrablatt, das
von schreienden Zeitungsjungen ausgeboten wurde, meldete den Tod des
Premierministers des neuen Königreichs Italien. Der sehr klerikale öster-
reichische Präsidialgesandte des Bundestages meinte mit einer Mischung
von Schadenfreude und moralischem Abscheu: „Ich möchte jetzt nicht an
der Stelle dieses bösen Mannes vor dem Tor zur Hölle stehen.“ Einige
andere Vertreter deutscher Königreiche und Großherzogtümer stimmten,
obwohl Protestanten, nicht ohne Scheinheiligkeit zu. Der italienische Ge-
sandte, Graf Barral, ein Savoyarde und loyaler Diener des Hauses
Savoyen, aber streng katholisch gerichtet, schwieg verlegen. Der franzö-
sische Gesandte zuckte die Achseln. Wie fast alle französischen Diplo-
maten war er ein Gegner der italophilen Politik des Kaisers Napoleon III.
Nur mein objektiv urteilender Vater, der mich kaum zwölfjährigen Knaben
an der Hand führte, meinte: „Comme legitimiste je ne puis louer la poli-
tique du Comte CGavour, mais son nom restera dans l’histoire.““
Der bedeutendste unter den Mitarbeitern des Baron Blanc war Herr
Malvano, ein Beamter von unermüdlicher Arbeitskraft und reicher Er-
fahrung, von Vorsicht und feinem Verstand. Auch er hatte schon unter
Cavour gedient. Malvano war Israelit wie Artom. Israelit war auch der
Finanzminister Sidney Sonnino, dem ich hier zum erstenmal begegnete.
Er war damals ausgesprochen deutschfreundlich. Er kannte Deutschland,
dessen Sprache und Literatur. Eine seiner Schwestern war mit einem
bayrischen Diplomaten, dem Freiherrn von Tautphoeus verheiratet. Er
galt für das, was die Franzosen einen „‚mauvais coucheur‘“ nennen, für
unverträglich und rechthaberisch. Er war ein Sonderling, dem man in
der Gesellschaft selten begegnete. Aber er hatte mit dem Abgeordneten
Franchetti, auch einem Juden, ein gutes Buch über die wirtschaftlichen
Zustände in Sizilien geschrieben. Er hatte viel gelesen und viel nachgedacht,
er hatte einen zähen Willen.
Durch seine Klugheit frappierte mich der Minister des Königlichen
Hauses, Herr Ratazzi, ein Neffe des radikalen Parlamentariers, der
Cavour scharfe Opposition gemacht hatte, Politische Differenzen führen
in Italien selten zu persönlicher, fast nie zu unüberwindlicher persönlicher
Feindschaft. Italien wurde von Männern aufgebaut, die nach Herkunft und
Richtung voneinander sehr verschieden waren: von Piemontesen und von
Sizilianern, von hochgeborenen Aristokraten und von Männern, deren
Wiege in ärmlichem Hause gestanden hatte, von gläubigen, feurigen Katho-
liken und von Freimaurern und Freigeistern. Aber in der Hauptsache, näm-
lich darin, daß es gelte, Italien möglichst stark zu machen und deshalb
immer das Ganze über die Teile, die nationale Idee über alle regionalen,