„STEINBERGER KABINETT“ 657
partikularistischen Tendenzen, alle lokalen Instinkte und Traditionen zu
stellen, darin waren sich alle Intellektuellen einig. In dieser Beziehung
hat der gebildete Teil des italienischen Volkes während des ganzen Ver-
laufes des Risorgimento und auch später, bis heute, nie versagt.
Kaisers Geburtstag, der 27. Januar 1894, bot mir erwünschte Gelegen-
heit, Fühlung mit der deutschen Kolonie in Rom zu nehmen. Sie blickte
auf eine lange und stolze Geschichte zurück. Als Karl der Große am
29. November 799 in Roın einritt, zogen ihm alle Scholae Peregrinorum:
die der Franken, Friesen, Sachsen und Langobarden, mit Gesang und
Fahnen bis zum Ponte Molle entgegen. Jeder deutsche Romfahrer kennt
den Campo Santo der Deutschen neben der Peterskirche mit der schlichten
und schönen Inschrift: ‚„Teutones in Pace.‘‘ Jeder kennt auch die Kirche
Santa Maria dell’Anima mit dem Grabmal des Papstes Hadrian VI., des
letzten Deutschen, der auf dem Stuhl Petri saß. Seine wehmütige Inschrift:
„Proh dolor! Quantum refert, in quae tempora vel optimi cujusque virtus
incidat!““ könnte sich mancher Feldherr, mancher Staatsmann, mancher
Mann des öffentlichen Lebens als Motto wählen. Der langjährige römische
Korrespondent der „Kölnischen Zeitung‘, Friedrich Noack, hat unter dem
Titel „Das deutsche Rom“ eine schöne Geschichte des Deutschtums in
Rom geschrieben und mir freundlich zugeeignet. Vom Campo Santo der
katholischen Deutschen, im Schatten der Peterskirche, dem Schwalben-
nest am Riesendom, wo die Maler Joseph Anton Koch und Johann Martin
Wagner, wo der Geschichtsforscher Pater Teiner, der Kunsthistoriker Ernst
Plattner, wo der Leibarzt des Papstes Gregor XVI., Dr. Alerto, wo, be-
schattet von mächtigen Zypressen und Eukalyptus, umrankt von Rosen,
viele biedere deutsche Handwerker und Schweizer Gardisten ruhen, wo in
meinem Beisein der Kardinal Prinz Gustav Hohenlohe, dreißig Jahre nach
seiner Erhebung zum Kardinal, beigesetzt wurde, bis zum Akatholischen
Friedhof an der Pyramide des Cestius, wo Jacob Asmus Carstens und zwei
Kinder Wilhelms v. Humboldt, wo die Maler August Riedel und Hans
von Marees, wo der Architekt Gottfried Semper, der Archäologe Wilhelm
Henzen und Goethe filius patri antevertens ruhen, wo die Asche meiner
lieben Freundin Malwida von Meysenbug in einer Urne beigesetzt ist, auf
der nur die Worte „Amore e pace“ stehen, welch eine lange Straße, wieviel
große und teure Erinnerungen!
Die deutsche Kolonie war am 27. Januar 1894 vollzählig erschienen,
denn in den vorhergegangenen Tagen waren aus Berlin Nachrichten ein-
getroffen, die allen Deutschen ans Herz griffen. Am 22. Januar hatte der
Flügeladjutant des Kaisers, Graf Kuno Moltke, dem Fürsten Bismarck
ein kaiserliches Schreiben übergeben, in dem Wilhelm II. unter Über-
sendung einer Flasche alten Rheinweines den Fürsten zur Genesung von
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Die deutsche
Kolonie in
Rom
Wilhelm II.
lädt Bismarck
ein