678 DIE DISPUTATION MIT DEM KARDINAL
Wilhelm II. war novarum rerum cupidus wie nur irgendein Gallier zu
Beim Cäsars Zeit. Namentlich in seiner Jugend verlangte er nach immer neuen
Erzbischof Impressionen. Als ihm erzählt worden war, daß sich der Erzbischof von
von Neapel Neapel, der Kardinal Sanfelice, großer Beliebtheit erfreue, wollte er ihn
kennenlernen. Einen Besuch beim Erzbischof, den ich ihm vorschlug, er-
klärte er für einen zu weit gehenden Schritt. Er sprach den Wunsch aus,
daß die Begegnung im Kloster Camaldoli stattfinden möge, von dem er im
Baedeker gelesen hatte, daß man von dort eine prächtige Aussicht genieße.
Das war richtig. Wenige Aussichten sind mit dem Rundblick zu ver-
gleichen, der vom Garten des Klosters die Buchten von Neapel und Poz-
zuoli, den Golf von Gaöta, das volkreiche Neapel, den rauchenden Gipfel
des Vesuv, den Posilipo und Capo Miseno, Procida und Ischia, Bajä und
Cumä, Capri, Sorrento und Castellamare umfaßt. Die Kaiserin wäre gern
auf der „Hohenzollern‘“ geblieben, teils, weil sie müde war, teils, weil sie
zwar, immer korrekt, römische Prälaten mit Courtoisie behandelte, diese
Herren ihr aber doch etwas unheimlich waren. Wilhelm II. duldete jedoch
bei seiner Frau keinen Widerspruch. Ihre Majestät mußte mit. Am Eingang
des Klosters erwartete uns der Kardinal. Nachdem wir wieder und immer
wieder die Aussicht bewundert und gemeinsam die Allmacht Gottes ge-
priesen hatten, der diesen Erdstrich so reich segnete, verlangte es den
Kaiser, ein eingehendes und ernstes Gespräch mit dem Kardinal zu führen.
Da der Kaiser nicht Italienisch sprach, während der Kardinal nur seine
Muttersprache beherrschte, mußte ich als Dolmetscher fungieren. Der
Kaiser stellte eine Reihe von Fragen, die der Kardinal taktvoll und klug
beantwortete. Plötzlich rief der Kaiser, zu mir gewandt: „Fragen Sie ihn,
ob er glaubt, daß die Protestanten in den Himmel kommen.“ Ich erwiderte,
daß es besser sei, diese Frage nicht an den Erzbischof von Neapel zu richten.
Der Kaiser insistierte. Ich blieb bei meinem Widerspruch. Der Kardinal,
der unser Zwiegespräch nicht verstand, aber merkte, daß ich eine von
Seiner Majestät gestellte Frage nicht weitergeben wollte, erklärte sich
lächelnd bereit, die kaiserliche Wißbegierde in jeder Richtung zu befriedi-
gen. So blieb mir nichts übrig, als Seine Eminenz zu fragen, ob nach seiner
Ansicht auch Protestanten die Wonnen des Paradieses zuteil werden
würden. Der Kardinal sann einen Augenblick nach. Dann meinte er: „La
misericordia divina & infinita.‘“ (Die göttliche Barmherzigkeit hat keine
Grenzen.) Der Kaiser war zufrieden und der Kardinal auch. Der Kardinal
schenkte mir zur Erinnerung an die Zusammenkunft von Camaldoli sein
Bild, das ich vor mir stehen habe. Es erinnert mich an einen gütigen und
weisen, feinen und weltkundigen Kirchenfürsten, der mit derselben Klug-
heit, mit der er die verfängliche Frage des Kaisers Wilhelm II. beant-
wortete, es verstand, das volle Vertrauen der Kurie zu bewahren, dabei