ALS HOCHVERRÄTER NACH SPANDAU? 681
Rußland unprovoziert angegriffen würde. Der Artikel schloß: „Dieses Ein-
verständnis ist nach dem Ausscheiden des Fürsten Bismarck nicht er-
neuert worden, und wenn wir über die Vorgänge in Berlin richtig unter-
richtet sind, so war es nicht etwa Rußland, sondern Deutschland war es,
das die Fortsetzung dieser gegenseitigen Assekuranz ablehnte, während
Rußland dazu bereit war. Wenn man dazu die gleichzeitige polonisierende
Ära, die durch die Namen Stablewski und Koscielski gekennzeichnet ist,
politisch in Anschlag bringt, so wird man nicht zweifelhaft sein können,
daß die russische Regierung sich fragen mußte: Welche Ziele kann dieser
preußische Polonismus haben, der mit den Traditionen Kaiser Wilhelms I.
so flagrant im Widerspruch steht ?“
Diese Auslassungen der „Hamburger Nachrichten“, die in jeder Wen-
dung die Tatze des Löwen erkennen ließen, machten in Deutschland und
in Europa sehr großes Aufsehen. Demokratische, klerikale und sozialistische
Blätter überhäuften den Alten im Sachsenwald mit wüsten Schmähungen.
Ein freisinniges Blatt meinte, Caprivi, der mit gelassener Ruhe von dem
leidenschaftlichen Urteil der Gegenwart an die Objektivität der Nachwelt
appelliere, stehe turmhoch über dem ‚aufgeregten Treiben des gealterten
Herrn aus dem Sachsenwald‘“. Das leitende Zentrumsblatt, die „Ger-
mania“, behauptete, daß, von einigen unentwegten Trabanten des Fürsten
Bismarck abgesehen, ganz Deutschland sein Vorgehen verdamme. Kaiser
Wilhelm II. geriet in gewaltigen Zorn. Bei einem Besuch, den er dem
Schießplatz in Meppen und den Kruppschen Werken in Essen abstattete,
verkündete er laut und vor Zeugen, daß er Bismarck wegen Landes- und
Hochverrats in Spandau einsperren lassen werde. Die Verbreitung
dieser Drohungen durch die Presse wurde verhindert, sie fanden aber ihren
Weg nach Friedrichsruh. Fürst Bismarck ließ darauf in den „Leipziger
Neuesten Nachrichten“ erklären, er bedauere, daß, nachdem wir dreißig
Jahre im Aufschwung gewesen seien, die Sache jetzt rückwärts gehe. Er
werde ja das Ende nicht erleben, aber für seine Söhne tue es ihm leid. Zu
der Drohung, daß ihm ein Prozeß gemacht werden würde, hatte der Fürst
nach den „Leipziger Neuesten Nachrichten‘ bemerkt, er habe gar nichts
dagegen, daß man seinem Leben einen dramatischen Abschluß gebe.
Im Reichstag wurde eine Interpellation über die Enthüllungen der
„Hamburger Nachrichten“ eingebracht, die der Staatssekretär Marschall
in dialektisch gewandter, sachlich schwächlicher und schwungloser Weise
beantwortete. Der Abgeordnete Eugen Richter meinte, Bismarck habe
durch seinen Rückversicherungsvertrag einen Vertrauensbruch gegen
Österreich begangen und die deutsche Politik diskreditiert. Fürst Bismarck
habe sich auch des Verrats von Staatsgeheimnissen schuldig gemacht, und
nur mit Rücksicht auf sein hohes Alter und gewisse frühere Verdienste
Drohungen
des Kaisers
Reichstags-
Interpellation