Die
Kreta-Krise
Zu Philipp
Eulenburg
nach Meran
682 DER WETTERWINKEL
möge Gnade vor Recht ergehen. Der Sozialist Liebknecht erklärte, Fürst
Bismarck habe Österreich durch seinen Rückversicherungsvertrag ‚‚ver-
raten“. Dieser weise Thebaner fügte hinzu: „Die doppelte Moral der Diplo-
maten muß endlich aufhören.“ Der alte Fürst Hohenlohe hatte Kaiser
Wilhelm II. seine Absicht, den Fürsten Bismarck in Spandau einzusperren,
mit Feinheit und nicht ohne Humor ausgeredet. Es sei nicht ausgeschlossen,
sagte er zum Kaiser, daß den achtzigjährigen Bismarck im Arrest aus Er-
regung und Zorn der Schlag treffen würde. Dann entstünde die Frage der
Beisetzung. Der Kaiser würde sie natürlich feierlich gestalten und selbst-
verständlich an ihr teilnehmen wollen. Wäre es eines so großen Monarchen
würdig, in einer Festung zweiten Ranges den Leichenkondukt seines ersten
und berühmtesten Kanzlers vor sich gehen zu lassen ? Allmählich beruhigte
sich Wilhelm II.
Wie sich die europäischen Verhältnisse seit dem Berliner Kongreß und
seit dem ein Jahr später erfolgten Abschluß des deutsch-österreichischen
Bündnisses gestaltet hatten, war die Balkanhalbinsel der Wetterwinkel,
wo sich leichter als anderswo ein den europäischen Frieden bedrohendes
Gewitter zusammenziehen konnte. Hier drohte dem Weltfrieden seit der
Mitte der siebziger Jahre, während vierzig Jahren, die realste Gefahr. Ihr
Zentrum war einst die Herzegowina gewesen und sollte später erst Bul-
garien, dann Bosnien und Serbien werden. Jetzt war Kreta der bedroh-
lichste Punkt. Im Februar 1896 brachen dort Unruhen aus. Die mirin Rom
während der Kretakrise gestellte Aufgabe war, Italien von Seitensprüngen
abzuhalten, um so einerseits eine weitere Ausdehnung des Brandes zu ver-
hindern und auf der anderen Seite die innere Geschlossenheit des Drei-
bundes nach außen hervortreten zu lassen. Wilhelm II. war von der Art,
wie ich diese Aufgabe löste, so entzückt, daß er mir das Band des Kronen-
ordens verlieh, mein erstes preußisches Band, und dazu telegraphierte:
„Die Dekoration, die auf meine Anregung hin Ihnen gesandt wurde, haben
Sie in höchstem Maße verdient. Die ganzen letzten Monate haben Sie durch
meisterhaftes Manövrieren es verstanden, Italien und Orient vernünftig
zu halten. Dafür gebührt Ihnen mein herzlichster Dank.“
Im Januar 1897 erhielt ich einen Brief von Philipp Eulenburg,
der mir schrieb, daß er mich unbedingt sprechen müsse. Er sei zu leidend,
um mich in Rom aufzusuchen oder mir auch nur ein Rendezvous in Venedig
zu geben. Ich müsse ihm also das Opfer bringen, nach Meran zu kommen,
wo er zum Besuch seiner Mutter weile. Ich fand Phili in Meran nicht so
krank, wie er behauptet hatte. Er war seit jeher un malade imaginaire. Ich
beeile mich, hinzuzufügen, daß, wie mir mein lieber Freund, der ausgezeich-
nete Arzt Professor Renvers, gelegentlich sagte: der „malade imaginaire““
subjektiv ebenso leidet, als ob er tatsächlich krank wäre. Auf dem Sofa