68 EIN SCHULFREUND
scharfer Wind zu wehen pflegt. Das gilt von den Höhen des Lebens wie von
dieser kleinen Anhöhe.“ Mein Vater sagte mir auch einmal: „Wer Alt-
Strelitz in Ordnung halten kann, wird auch mit Neu-Strelitz fertig werden.
Und wer das Zeug für das Großherzogtum Mecklenburg-Strelitz hat, der
mag auch ein größeres Land regieren. Es sind dieselben Eigenschaften, die
hier und dort verlangt werden. Es ist im Grunde einerlei, ob du mit
hölzernen, mit silbernen oder mit goldenen Figuren Schach spielst.“
Alt-Strelitz war noch kleiner als Neu-Strelitz, es hatte kaum zweitausend
Einwohner. Amts- und Stadtrichter in Alt-Strelitz war der Vater meines
Schulfreundes Wohlfahrt, der am selben Tage geboren war wie ich. Wir
sind durch unser ganzes Leben Freunde geblieben. Ewald Wohlfahrt war,
nachdem er ein gutes Referendar- und ein noch besseres Assessor-Examen
abgelegt hatte, Bürgermeister von Alt-Strelitz geworden. Als er sich in
dieser Stellung bewährt hatte, rückte er zum Bürgermeister von Neu-
Strelitz auf. Als er auch diese Stufe der Leiter erklommen hatte, schrieb er
mir, nun bliebe ihm kaum noch etwas zu wünschen übrig. Die Vorsehung
meinte es aber so gut mit ihm, daß er nach mehrjähriger Tätigkeit als
Bürgermeister von Neu-Strelitz großherzoglicher Hofrat wurde. Da ließ er
sich in einer schönen Uniform photographieren und schickte mir sein Bild.
Ich hielt ihn damals für einen der wenigen wirklich zufriedenen Menschen,
die mir begegnet sind.
Aber ich hatte ohne den Weltkrieg und ohne den Zusammenbruch
des alten, glücklichen Deutschland gerechnet, die auch in diesen stillen
Wirkungskreis eingriffen. Mein Freund Wohlfahrt litt nicht nur als
treuer Patriot, der er war, unter dem Unglück des Vaterlandes, sondern
er mußte mit ansehen, wie vieles, was er in seinem kleinen Kreise mit
Verständnis und Liebe gehegt und gepflegt hatte, durch den Umsturz
zerstört wurde. Er schrieb mir darüber im Frühjahr 1923: „Wenn Du vor
Jahren einmal wieder nach Strelitz gekommen wärst, würdest Du Dich in
der alten Residenzstadt, in welcher Zucht, Ordnung und Sauberkeit
herrschten, wohlgefühlt haben. Jetzt aber würdest Du Dich wundern über
die traurigen Zustände, welche hier seit 1919 bestehen. Ich bedauere, mein
Leben hier beschließen und täglich sehen zu müssen, wie das, was ich mit
Mühe und Sorgfalt aufgebaut habe, nunmehr in kurzer Zeit niedergerissen
und zerstört wird. Diejenigen, welche ehemals begierig nach einem Blicke,
einer Anrede Serenissimi haschten, sind jetzt die eifrigsten Anhänger der
Republik und haben schnell vergessen, was wir unserem Fürstenhause
schulden an Dank für das, was sie einst getan, und an Mitgefühl für das,
was sie jetzt leiden müssen. Es ist wahrlich kein Vergnügen für mich, den
ehemaligen Consul loci, das alles sehen und fühlen zu müssen, und nicht nur
einmal, sondern täglich.“