Full text: Tagebuchblätter. Dritter Band. (3)

Die Kriegswochen von 1866 in Leipzig 555 
und vollständige Unbekanntschaft mit dem Leben kann das erwarten. 
Ich habe nicht das mindeste gegen die juristische Berechtigung zu 
dem Verlangen nach Remedur in dieser Angelegenheit. Aber mit 
diesem Gaule zieht man die Sachsen gewiß nicht aus dem Sumpfe, 
worin sichs die Mehrzahl bis jetzt wohl sein ließ. Das Resultat 
jenes Wahlgesetzes war ein „Unverstandslandtag“ mit demokratischen 
Schnelldenkern und Schwärmern ohne politische Kenntnis und Er- 
fahrung, mit „Jäkel im blauen Rock“ und Schulmeistern, die sich 
zu dem stolzen Grundsatze bekannten: „Ich kenne die Gründe der 
Regierung nicht, mißbillige sie aber,“ und das Ergebnis einer Re- 
habilitierung des Gesetzes würde, wie die Dinge jetzt liegen, kaum 
etwas andres sein als wieder ein Unverstandslandtag. Einer der 
Faiseurs der in Leipzig sich regenden Partei giebt schon Außerungen 
zu hören, die diese Befürchtung bestärken: er sagt ganz ungescheut, 
daß die Parteidoktrin allem andern voranzustehen hat, und daß die 
Geschichte sich ihr fügen, nach ihr gemacht werden muß, und es 
werden Ansichten von ihm berichtet, die sich ungefähr dahin präzi- 
sieren lassen: „Ich kenne die Gründe der Annexionisten, nach denen 
sie die Einverleibung der eroberten norddeutschen Länder in Preußen 
wünschen, zwar durchaus nicht, mag sie auch gar nicht wissen, miß- 
billige sie aber, weil — je nun, weil der Nationalverein die An- 
nexion nicht auf seinem Programme hat, und ich in dessen Vorstand 
zu sitzen die Ehre habe." 
Immer muß wiederholt werden: was das Volk zunächst braucht, 
ist Belehrung über seine Vergangenheit seit 1815 und namentlich 
seit 1848 und über die ihm drohende Zukunft, kurze, faßliche, immer 
wiederholte und variierte Belehrung durch Flugschriften, durch Zei- 
tungen und vor allen Dingen durch die kleinen Lokalblätter, die in 
die Masse dringen, und denen man nicht aus dem Wege gehen kann; 
dann als Bestätigung und Druckmittel hinter solchem Unterrichte — es 
ist ein wenig beschämend, das sagen zu müssen, aber nun einmal 
nicht zu verschweigen — gelinde, nach Befinden kräftigere Drohung 
mit dem Ausschluß aus dem Zollvereine. Für das eine haben wir 
zu sorgen, für das andre die Berliner Politik. Alles, was unfrer- 
seits sonst vorgenommen wird, ist mehr oder minder Komödie, wie 
pathetisch und wie würdevoll man sich dabei auch ausdrücken und 
gebärden mag.
	        
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