Full text: Tagebuchblätter. Erster Band. (1)

224 Achtes Kapitel 22. September 
„Was den »Brief eines gefangnen Offiziers« (Bouillon, 9. Sep- 
tember) anlangt, so enthält auch dieser mehr Lüge als Wahrheit. 
In betreff der Behandlung der Gefangnen kann Deutschland sich 
auf 150000 bessere Zeugen, als dieser anonyme und verlogne 
Offizier einer ist, berufen, dessen ganzes Schreiben nur der Ausdruck 
der Rachsucht ist, die die eiteln und übermütigen Elemente des fran— 
zösischen Volkes, von denen es sich leider beherrschen und leiten 
läßt, noch für lange Zukunft beseelen wird. Aus diesem Geiste der 
Rachsucht leuchtet die Gewißheit des neuen Angriffs hervor, dem 
Deutschland ausgesetzt sein wird, und diese Gewißheit zwingt uns, 
beim Friedensschlusse keinen andern Gesichtspunkt als den der Be— 
festigung unsrer Grenzen zu verfolgen. Wahr ist in dem Briefe 
des angeblichen Offiziers, des Herrn L., daß es nach der lbergabe 
von Sedan an Lebensmitteln fehlte, aber nicht bloß für die Ge- 
fangnen, sondern ebenso für die Sieger, die mit jenen geteilt haben, 
was sie hatten, solange sie aber selbst nichts hatten, auch nichts 
geben konnten. Wenn sich Herr L. darüber beklagt, daß er in 
Regen und Schmutz habe biwakieren müssen, so liegt darin der 
beste Beweis, daß er kein Offizier ist, und daß er den Krieg bis 
dahin nicht mitgemacht hat. Er ist irgend ein gemieteter Schreiber, 
der das Zimmer gar nicht verlassen hat, und diese Klage läßt ver- 
muten, daß die ganze Erzählung des Mannes von seiner Gefangen- 
nahme eine Erfindung ist; denn wäre er Offizier im Dienste, so 
würde er wissen, daß die meisten seiner Kameraden ganz sicher 
— wenigstens gilt das von den deutschen — von den etwa vierzig 
Nächten seit Beginn des Krieges mindestens dreißig unter denselben 
Umständen zugebracht haben. Wenn es des Nachts regnete, haben 
sie im Regen, und wenn die Stelle des Biwaks schmutzig war, 
haben sie im Schmutze gelegen. Nur jemand, der diesen Feldzug 
nicht mitgemacht hat, kann darüber in Ungewißheit sein und sich 
über ein solches Vorkommnis wundern. Wenn Herr L. sich rühmt, 
seine lederne Geldtasche behalten zu haben, so ist dies der klarste 
Beweis, daß er eben nicht ausgeplündert worden ist. Denn es giebt 
wohl keinen Soldaten, der nicht, wenn er Geld hat, es heute wie 
vor fünfzig und hundert Jahren in einer solchen Tasche auf dem 
bloßen Leibe trüge, und wenn die deutschen Soldaten das Geld des 
Herrn L. hätten haben wollen, so wußten sie aus eigner Erfahrung,
	        
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