Full text: Tagebuchblätter. Erster Band. (1)

19. Oktober Zehntes Kapitel 303 
auf Berliner Persönlichkeiten Streiflichter warfen. Stoffels Schreiben 
wurde namentlich wegen seiner ÄAußerungen über den „Bleichen“ 
(Bleichröder) sehr belacht. In betreff des Briefes der Gräfin Pour- 
tales sagte der Minister: „Schleinitz war verschwiegen gegen Leute 
vom Geschäft, aber als alter eitler Geck gegen Frauenzimmer unge- 
heuer schwatzhaft, und hier hatte er eine sehr hübsche Frau vor sich.“ 
Später gedachte er der Notiz im Kraj und in Verbindung 
hiermit der Polen überhaupt. Er verweilte dabei längere Zeit bei 
den siegreichen Kämpfen des Großen Kurfürsten im Osten und bei 
dessen Verbindung mit Karl dem Zehnten von Schweden, die ihm 
große Vorteile verheißen habe. Schade nur, daß sein Verhältnis 
zu Holland ihn gehindert habe, diese Vorteile zu verfolgen und 
gehörig auszunutzen. Er habe sonst gute Aussichten gehabt, seine 
Macht im westlichen Polen auszudehnen. Als Delbrück darauf 
äußerte, dann wäre ja * aber kein deutscher Staat geblieben, 
erwiderte der Chef: „Nun, so schlimm wäre es doch nicht geworden. 
Übrigens hätte es nicht so viel geschadet, es hätte dann etwas im 
Norden gegeben wie Osterreich im Süden. Was dort Ungarn ist, das 
wäre für uns Polen geworden“ — eine Bemerkung, an die er die vor- 
her schon einmal von ihm gegebne Mitteilung knüpfte, er habe dem 
Kronprinzen den Rat erteilt, seinen Sohn die polnische Sprache 
lernen zu lassen, es wäre aber zu seinem Bedauern unterblieben. 
Mittwoch, den 19. Oktober. Früh trübes, später helles 
Wetter. An die Redaktion des Novuwelliste de Versailles ge- 
schrieben — ein kleines Blatt, das von deutschen Juden, Korrespon- 
denten der Kölnischen und der Allgemeinen Zeitung, die man aus 
Paris vertrieben hat, gegründet worden ist und mit Brauchitsch in 
Verbindung steht. 1 Sollen sich auch mit uns in Beziehung setzen, 
Nachrichten holen und dergleichen. 
Vor= und nachmittags mehrmals beim Chef gewesen. Er scheint 
in bester Stimmung. Zeigt mir unter anderm ein französisches 
Telegramm, wonach die Helden in Lutetia lawinenhafte Thaten 
gegen uns verrichtet haben. Wenn solches Aufschneiden nur einen 
Zweck hätte! 
  
1 Heinrich von Brauchitsch war deutscher Präfekt von Versailles. Vgl. 
über ihn Roon III4, 238.
	        
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