Full text: Tagebuchblätter. Erster Band. (1)

322 Zehntes Kapitel 23. Oktober 
Wiederholt schon hatte ich in den Nachmittagsstunden Soldaten 
aus den Lazaretten auf den Kirchhof bringen sehen, vorgestern drei, 
gestern zwei auf einmal. Heute kam ein langer Zug vom Schlosse 
her über die Place d'Armes und in die Rue Hoche hinein. Es 
waren fünf Bahren, auf der ersten unter einem schwarzen Leichen— 
tuch ein Offizier vom 47. Regiment, auf den andern, bedeckt mit 
weißen Laken, gemeine Soldaten. Ein vorangehendes Musikchor 
blies einen Choral, dann folgte das dumpfe Wirbeln der Trommeln. 
Auch ein Geistlicher war dabei. Die Franzosen zogen beim Vorüber- 
gehen der Särge Mützen und Hüte — eine schöne Sitte. 
Bei Tische machte Delbrück darauf aufmerksam, daß die preu— 
ßischen Beamten hier sehr bald, nachdem sie angestellt sind, das 
Bedürfnis empfinden, sich alles Ernstes den ihrer Aufsicht anver— 
trauten Dingen zu widmen, das Beste der ihnen untergebnen Ein— 
wohner wahrzunehmen und auch dann für Ordnung in den ihnen 
zugewiesenen Kreisen zu sorgen, wenn es sich nicht um unser Interesse 
handelt. So sei z. B. Brauchitsch außer sich über den in den hiesigen 
Wäldern ganz ungescheut verübten Holzdiebstahl und wolle zu Gunsten 
der französischen Forstverwaltung kräftig gegen das Unwesen ein— 
schreiten. 
Ferner erfuhr man, daß aus Baden in diesen Tagen Freydorff, 
Jolly und ein dritter zu erwarten seien, dessen Name mir entfallen 
ist,. und von dem man auf Usedom zu reden kam. 
Der Chef bemerkte, daß er mit diesem dritten doch nicht ver- 
handeln könne, worauf Delbrück erwiderte, das sei wohl auch nicht 
beabsichtigt, der werde nur als Hilfsarbeiter mitgebracht. Jemand 
sagte, er sei Privatsekretär bei Usedom gewesen. „Um so schlimmer 
— versetzte der Kanzler —, wer Privatsekretär bei dem gewesen ist, 
der taugt gewiß nichts.“ Er scherzte dann über den ehemaligen Ge- 
sandten; dieser habe „in Italien la recherche de la paternité an- 
gestellt. Er suchte sich einen Vater." 
Delbrück entgegnete: „Wohl mehr recherche de la maternité. 
Er weiß nämlich nicht, wer seine Mutter gewesen ist.“ Einmal, 
so fuhr er fort, sei, nachdem sein Vater lange in Italien gewesen 
sei, auf dessen Gute plötzlich der Befehl angekommen, einen Flügel 
  
1 Es war der Legationsrat Dr. Hardeck. Staatsminister Jolly, 178.
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.