Full text: Tagebuchblätter. Erster Band. (1)

348 Elftes Kapitel 3. November 
habe. Es wurde ferner davon gesprochen, daß Bölsing, der schon 
seit einiger Zeit kränklich und kleinlaut geworden war, den Chef 
gebeten habe, ihn nach Berlin zurückkehren zu lassen, und daß 
Wollmann ihn ersetzen solle. Zum Chef gerufen wurde ich be— 
auftragt, nach London zu telegraphieren, man möge ihm in Zukunft 
Proklamationen wie die Gambettasche vom 1. d. M. nicht durch 
Telegramm melden, da er kein Interesse habe, dergleichen Außerungen 
rasch zu erfahren. 
Beim Diner war u. a. die Rede von den Berliner Wahlen, 
und Delbrück war der Ansicht, sie würden besser ausfallen als 
bisher; wenigstens würde Jacoby nicht wiedergewählt werden. Graf 
Bismarck-Bohlen hatte sich eine andre Meinung gebildet: er hoffte 
keine Anderung. Der Kanzler sagte: „Die Berliner müssen immer 
Opposition machen und ihren eignen Kopf haben. Sie haben ihre 
Tugenden — viele und sehr achtbare, sie schlagen sich gut, halten 
sich aber für nicht gescheit genug, wenn sie nicht alles besser wissen 
als die Regierung.“ Es wäre das jedoch, fuhr er fort, nicht allein 
ihr Fehler. Große Städte hätten das alle an sich, und manche 
wären sogar schlimmer als Berlin. Sie wären überhaupt unpraktischer 
als das platte Land, das mehr mit dem Leben, direkter mit der 
Natur verkehre und sich auf diese Weise ein natürlicheres, der that- 
sächlichen Entwicklung angepaßtes, mit dem, was möglich, rechnendes 
Urteil bilde und bewahre. „Wo so viele Menschen dicht beisammen 
sind, hören die Individualitäten leicht auf — sagte er weiter —, 
sie verfließen in einander. Es entstehen aus der Luft, aus Hören- 
sagen, Nachsagen allerlei Meinungen, die wenig oder gar nicht auf 
Thatsachen begründet sind, die sich aber durch Zeitungen, Volks- 
versammlungen, Unterhaltungen beim Bier verbreiten und dann fest- 
stehen — unausrottbar. Es ist eine zweite falsche Natur neben 
der ersten, ein Massenglaube, Massenaberglaube. — Man redet 
sich ein, was nicht ist, hält es für Pflicht und Schuldigkeit, dabei 
zu bleiben, begeistert sich für Borniertheiten, Absurditäten. — Das 
ist in allen großen Städten so, in London, wo die Cockneys auch 
eine ganz andre Rasse sind als die übrigen Engländer, in Kopen- 
hagen, in Newyork und vor allem in Paris. Die sind mit ihrem 
politischen Aberglauben ein ganz besondres Volk in Frankreich, be- 
fangen und beschränkt in Vorstellungen, die geheiligtes Herkommen
	        
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