216 Zwanzigstes Kapitel
Endlich lagen damals auf diesem Tische etliche Bücher: die rot—
gebundne Rangliste, Hirths „Parlamentsalmanach,“ die Gothaischen
Taschenbücher, ein Kursbuch und Henry Wheatons Commentaire
du droit international.
Was könnte der Schreibtisch erzählen, wenn er Verstand,
Gedächtnis und Sprache hätte! Von was für Geheimnissen, was
für geistigen Kämpfen, was für Eingebungen und Erleuchtungen,
langsamen Gedankenentwicklungen und plötzlichen energischen Ent-
schlüssen — von welchen Gebeten vielleicht mögen die Bilder an
den Wänden Zeugen gewesen sein! Wie werden dem alten Fritzen
und dem Großen Kurfürsten die Augen geleuchtet haben, wenn sie
von ihrer hohen Stelle hinter dem Schreibenden ihm beim Ent-
werfen einer kühnen, weithin wirkenden, die deutsche Welt und mit
ihr die gesamten europäischen Verhältnisse umgestaltenden Maßregel
über die Schulter auf das Papier schauten!
Der Schöpfergeist, der hier waltete, ist ausgezogen, er kehrt
in das Haus nicht mehr zurück. In seiner alten Werkstatt hier
oben macht sichs heute vielleicht irgend ein gleichgiltiger, aber an-
spruchsvoller Herr von Soundso als Inhaber von drei tönenden
Titeln und dreimal drei hohen Orden bequem; denn auch dieser
Teil des Hauses ist umgebaut worden, und was unten war, ist
heraufgerückt. Für uns aber sei es im Geiste noch wie ehedem.
Der Meister weilt in der Ferne, aber für unfre Gedanken nur auf
Zeit. Es ist, als ob er unsichtbar zugegen wäre. Wir vermögen
uns das welthistorische Zimmer nicht vorzustellen, ohne uns ihn
hinein zu denken. Wir gehen leise hindurch und halten den Atem
an, als ob wir ihn stören könnten. Ein Etwas wie das Gefühl
der Andacht begleitet uns. Und so würde es jedem zu Mute sein,
der Empfindung für Größe und Heldenverehrung mit hierher
brächte, auch nach Jahren und Jahrzehnten. Das Haus wird
einst verschwinden, und mit ihm dieses Gemach. Wäre dem nicht
so, so würde sich dem Besucher, der nach hundert Jahren hierher
käme, diese Stimmung noch stärker aufdrängen als uns Heutigen,
und die innere Stimme würde ihm zuflüstern: „Leise, der Ort ist
geweihter Boden!“
Setzen wir unsre Wanderung durch die vordern Räume fort,
die der Fürst von Bismarck bis 1878 innehatte, so treten wir