298 Zweiundzwanzigstes Kapitel 26. Dezember 1871
Renegat,“ in Paris sehr bekannt und in solchen Kreisen familiär
sei, wo er politische wie militärische Blicke in die Wirklichkeit der
französischen Zustände thun könne. R. ist indes als eitler Phantast,
kein guter Beobachter.7
26. Dezember. Heute nachträglich zwei Petersburger Berichte
aus der zweiten Woche dieses Monats gelesen und teilweise für die
Presse benutzt. In dem ersten stand, daß der Großfürst Thron-
folger, als der Kaiser Alexander beim Galadiner des Georgsfestes
am 8. d. M. nach starker Betonung seiner Freundschaft für Preußen
gesagt habe, er wünsche und hoffe, daß spätere Generationen diese
Gefühle auch haben möchten, zu seinem Nachbar an der Tafel be-
merkt habe: Dieu venille qdue celä se fasse. Zweitens heißt
es: „Ich war begierig zu hören, was mir Gortschakow über die
Rede des Kaisers vom 8. d. M. sagen würde. Derselbe bestätigte
mir, was ich schon wußte, daß nämlich der Kaiser niemand vorher
in sein Vertrauen gezogen habe. Er habe ihn nachher gefragt, ob
er damit zufrieden gewesen, und der Reichskanzler habe geantwortet,
mit Befriedigung habe er die Worte ordre 16gal in der Rede be-
merkt. Wenn ihn der Kaiser vorher zu Rate gezogen hätte, so
würde er darauf gedrungen haben, diese Worte anzubringen; denn
es sei nützlich, daß man in Europa wisse, beide Mächte seien für
die Aufrechterhaltung der gesetzlichen Ordnung solidarisch verbunden.
Es ist — so fährt der Bericht fort — dem Kanzler niemals ange-
nehm, wenn der Kaiser aus dem Stegreif und ohne ihn zu konsul-
tieren Politik macht. Das war auch diesmal durchzufühlen; indes
blieb ihm nichts andres übrig, als mir gegenüber sich sehr befriedigt
über die kaiserlichen Worte auszusprechen. Er setzte hinzu, die rus-
sische Presse finge bereits an, diese Worte mit beifälligen Kommentaren
zu begleiten, und hoffte, daß dies in Berlin gefallen würde. Dies
ist allerdings richtig. Indessen sind die Meinungen hier in Peters-
burg, so weit ich darüber habe Informationen einziehen können, sehr
geteilt. Unsre Freunde klatschen Beifall. Andre, die seit dem Kriege
von der thörichten Furcht befallen waren, das siegreiche Deutschland
werde sich nun demnächst auf Rußland stürzen, atmen freier auf.
Wieder andre machen sauersüße Gesichter zu dieser förmlichen Prokla-
mierung der deutsch-russischen Freundschaft. Alle Versuche dieser
Partei, diese Freundschaft durch gegenseitige Verdächtigungen zu