300 Zweiundzwanzigstes Kapitel 2., 5. Januar 1872
es auch zu Vorbereitungen für eine aus Vertretern beider Regierungen
zusammengesetzte Kommission, die die Sache beraten sollte. Was
weiter daraus geworden ist, ist mir unbekannt.
1872
2. Januar. Nach Meldung aus London hat Beust am 23.
v. M. Audienz bei Napoleon in Chislehurst gehabt und danach
Bernstorff gesagt, der Kaiser habe die Hoffnung auf Rückkehr nach
Frankreich durchaus noch nicht aufgegeben und auf Beusts Frage, ob
er die Hoffnung auch für seine Person oder bloß für seine Dynastie
hege, die Antwort gegeben, er selbst erwarte den Thron wieder zu
besteigen.
5. Januar. Werthern meldet aus München, daß Howard, der
sehr preußenfeindliche englische Gesandte am Hofe Ludwigs II., ab-
berufen worden sei und bei dem Könige eine dreiviertelstündige Ab-
schiedsaudienz gehabt habe, deren Länge um so mehr auffällt, als
der italienische Gesandte Greppi nur eine Viertelstunde bei Seiner
Majestät verweilt hat. Charakteristisch für die Münchner Zustände
ist, daß der Minister des Auswärtigen von diesen Audienzen erst
erfahren hat, als sie bereits stattgefunden hatten. An Howards
Stelle tritt der bisherige Geschäftsträger am darmstädtischen Hofe,
Morier, mit dem unser Werthern auf gutem Fuße steht. Ich bemerke
dazu, daß Bucher mir vor einiger Zeit Gedanken des Chefs zu einer
Münchner Korrespondenz für ein nicht offiziöses Blatt brachte, die,
wenn ich nicht irre, darauf für die Kölnische Zeitung ausgeführt
wurden. Sie lauteten: „Sir Henry Howard, der englische Gesandte
hierselbst, der seine Mußestunden, wenn ich wohl unterrichtet bin,
mit diplomatischen Klatschereien in einem Preußen nicht günstigen
Sinne auszufüllen pflegt, hat jetzt die ihm wohl sehr zusagende
Funktion, die französischen Staatsangehörigen in Bayern zu ver-
treten. Seine erste That in diesem neuen Amte war, den ehemaligen
Kanzler der französischen Gesandtschaft, Monsieur Hory, der zum
Zwecke des Spionierens zurückgeblieben war, zum Kanzler der eng-
lischen Gesandtschaft zu stempeln. Diese Haltung des Vertreters des
hochherzigen Albion hat hier große Entrüstung erregt. Sir Henry,
der Repräsentant der Königin von England, die den Titel Defender
of the Faith führt, ist übrigens sehr katholisch.“