322 Zweiundzwanzigstes Kapitel 20. Febr. 1872
„falls die Kronprinzessin, die Perle des Hauses Savoyen, dem
Lande geraubt werden sollte, sei mit Gewißheit zu erwarten, daß
die Familie Orleans alles aufbieten würde, um eine ihrer Prin—
zessinnen auf den italienischen Thron zu bringen, und daß es daher
weise sein würde, schon jetzt für alle Eventualitäten daran zu denken,
daß dem Gelingen eines solchen für Italien Unglück verheißenden
Planes dadurch vorgebeugt werde, daß man in Deutschland eine
Prinzessin suche, die wenigstens in politischer Beziehung als Ersatz
für einen solchen Unglücksfall dienen könnte.“
Der Konflikt zwischen der Partei der Kreuzzeitung und dem
Chef ist jetzt flagrant, das Tafeltuch zerschnitten. Die Herren
machen schon seit einiger Zeit Front gegen den Ministerpräsidenten,
indem sie im Bedürfnisse gesinnungsvoller Opposition mit Herrn
Windthorst die Vindikation des monarchischen Prinzips gegen parla-
mentarische Majoritätswirtschaft, die Verteidigung des christlichen
Charakters unsers Staates auf ihre Fahne geschrieben haben. Nach
der Versicherung ihres Blattes hatte der Fürst in seiner Rede vom
30. Januar „das, was die konservative Partei in Preußen seit
zwanzig Jahren stets als ihre Fundamentalprinzipien proklamiert
und verteidigt hat, direkt angegriffen oder aufgegeben.“! Die Stelle,
worin dies entdeckt worden war, lautete: „Aber wie die Sachen
augenblicklich liegen, in einem konstitutionellen Staate, da bedürfen
wir Ministerien einer Majorität, die unsre Richtung im ganzen
unterstützt.“ Das sollte „eine unumwundne Anerkennung desjenigen
Konstitutionalismus“ sein, den die Kreuzzeitung bisher mit Erfolg
bekämpft habe, weil er in Preußen nicht verfassungsmäßig sei.
Mit vollem Rechte wurde darauf in einem von Aegidi verfaßten
und vom Chef stark korrigierten und ergänzten Doppelartikel, der,
nachdem ihn die Nationalzeitung abgelehnt hatte, in der Spenerschen
Zeitung erschien, geantwortet:
„Nicht verfassungsmäßig? Leben wir denn nicht in einem
konstitutionellen Staatswesen? Haben wir eine Volksvertretung?
Ist ihre Zustimmung erforderlich zur Giltigkeit der Gesetze? Wird
1 G. u. E. II, 142 ff. Gemeint ist die Rede im Abgeordnetenhause am
30. Januar über die Aufhebung der katholischen Abteilung des Kultusministeriums.
Politische Reden V, 230.