14. April 1872 Zweiundzwanzigstes Kapitel 349
„Das ist die einfache, darum aber nicht zu verwerfende Lösung
dieses Rätsels. Andre Damen in ihrer Lage folgen dem Zuge ihres
Herzens, wenn sie sich von anerzogner Frömmigkeit treiben ließen,
ihre ganze Thätigkeit der Förderung kirchlicher Interessen zu Diensten
zu stellen.
„Bei der Prinzessin aus Weimar, bei der Tochter Karl Augusts,
des Freundes von Schiller und Goethe, bei der Schülerin Alexanders
von Humboldt ist das Verhältnis der beiden Faktoren das umge—
kehrte. Der Glanz, nach dem ihr Stolz von jeher gestrebt, ist ihr
in überreichem Maße zugefallen. Wenn die großartigen Krönungs-
feste von Königsberg und Berlin vor zehn Jahren hauptsächlich ihr
Werk waren, zu dem sie sich bekanntlich noch die Friseurin der
Kaiserin Eugenie von dieser erbat, so muß siec in dieser Richtung
vollauf Genüge haben, seitdem zum Königsdiadem die Kaiserkrone
getreten ist. Allein zum Schimmer des Glanzes will Augusta jetzt
auch den realen Machtgenuß haben. Anzeichen davon machten sich
schon 1866 fühlbar, als Vogel von Falckenstein von zarter Hand
aus Berlin Befehl bekam, in Süddeutschland milde vorzugehn, und
urplötzlich des Befehls über die Mainarmee enthoben ward, weil er
seinem Grolle Luft gemacht in den Worten: Wenn die Schürzen
kommandieren, da mag der Henker königlich preußischer General
sein.« Um nicht materiell gegen Bismarck zu verschwinden, brauchte
die Kaiserin eine Partei und mußte dieselbe nehmen, wo sie eben
zu finden war. So ist die erlauchte Dame, die einst ihren Ruhm
darein setzte, die freigeistige und belletristische Creme der Berliner
Gelehrten= und Schriftstellerwelt zu protegieren, an die Spitze des
Konventikelwesens geraten.
„Seltsam bleibt die Wendung bei alledem, auch nachdem wir
sie zu erklären versucht. Kaiserin Augusta als Führerin jener pieti-
stischen Junkerkligue, die ihr unter Friedrich Wilhelm dem Vierten,
da sie als Prinzessin von Preußen in einer Art ehrenvollen Exils
am Rhein weilte, eben weil sie auf die romantischen Neigungen ihres
königlichen Schwagers nicht eingehen wollte, alles gebrannte Herze-
leid angethan. Noch erzählt man in Koblenz, wie die Frau jenes
Krautjunkers Kleist-Retzow, der jetzt im Herrenhause die Opposition
gegen Bismarck in der Frage des Schulaufsichtsgesetzes und der
Kreisordnung führt, es sich damals als Oberpräsidentin der Rhein-