Full text: Tagebuchblätter. Zweiter Band. (2)

350 Zweiundzwanzigstes Kapitel 15. April 1872 
provinz zum Privatvergnügen machte, ihre feuchte Wäsche im Garten 
stets so aufhängen zu lassen, daß der Prinzessin damit die Aussicht 
abgeschnitten wurde. 1 Noch jetzt lebt in Berlin der Artikel der Kreuz- 
zeitung in der Erinnerung, die die ? Demokraten förmlich denunzierte, 
weil in den fünfziger Jahren einmal eine Ovation vor dem Palais des 
Prinzen von Preußen stattgefunden hatte, den eben sein und seiner 
Gattin Gegensatz gegen das Muckertum wieder populär gemacht. 
Und heute die Kaiserin Hand in Hand mit Kleist-Retzow und Senfft- 
Pilsach, mit Lippe und Gerlach! Eben in der Unnatur des Bünd- 
nisses liegt die Gewähr seiner kurzen Dauer. Die Monarchin wird 
des Dinges müde werden, sobald die kluge Frau merkt, daß sie ge- 
schoben werden soll, wo sie zu schieben glaubte. Bismarck aber wird 
nun bewähren müssen, was er in Paris zu Bamberger sagte: „Ich 
bin vielmehr Hofmann als Staatsmann.““ 
15. April. Aus Petersburg liegen zwei Berichte vor, die beide 
vom 10. datiert sind. Der eine meldet, daß man dem Fürsten 
Gortschakow „die Kozmianischen Schriftstücke“ in Abschrift übergeben, 
und daß der russische Reichskanzler sich bereit erklärt hat, mit uns 
gegen den Titel Ledochowskis als Primas von Polen zu protestieren. 
„Wie sich Fürst Gortschakow — so heißt es in dem Berichte weiter — 
früher beklagte, wir beabsichtigten Rußland allein ins Feuer zu 
schicken, so will er jetzt, wie es scheint, allein ins Feuer gehn, oder 
ist vielmehr schon hineingegangen, da Herr K., wenn auch nur ver- 
traulich, bereits Vorstellungen in Rom gemacht hat.“ — Das andre 
Schreiben berichtet: „Fürst Gortschakow teilte mir heute mit, daß 
General B. ihm vor einigen Wochen einen Privatbrief des Herrn 
Thiers gezeigt habe, worin eine Phrase in betreff der deutschen 
Okkupation enthalten gewesen sei. Der Kanzler habe ihm damals 
geantwortet, wenn ihm der Präsident der französischen Republik einen 
Finanzplan mitteilen wollte, der eine sichere Zahlung der Kriegs- 
kontribution in eine mögliche Aussicht stellen würde, so würde die 
kaiserliche Regierung einen solchen Plan gern in Berlin zur Be- 
rücksichtigung empfehlen. Weiter könne er nichts versprechen. Vor 
einigen Tagen nun ist der französische Botschafter auf diesen Gegen- 
stand zurückgekommen und hat aufs neue gefragt, ob die kaiserliche 
  
1 G. u. E. I, 126.
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.