Full text: Tagebuchblätter. Zweiter Band. (2)

21. April 1872 Zweiundzwanzigstes Kapitel 355 
erteilte, bringt Braß heute einen Artikel, den Bucher zum größten 
Teile dem Chef nachgeschrieben hat. Es heißt darin: „So lange 
wir nicht durch genauere Nachrichten eines andern belehrt werden, 
sind wir geneigt, anzunehmen, daß jene vierhundert Personen nicht 
etwa aus den erwähnten Ländern nach Rom gekommen sind, um 
die Adresse zu überreichen, sondern daß die Leiter der vatikanischen 
Politik das Bedürfnis empfunden haben, dem Pahpste die Gelegen— 
heit zu einer Äußerung zu bieten und die wirklichen Pilger durch 
ein in Rom und andern italienischen Städten nie fehlendes Kontingent 
von Touristen und fremden Residenten verstärkt haben. Wir thun 
ihnen wohl nicht Unrecht, ihnen den kleinen Kunstgriff zuzutrauen, 
wenn die Rede des Papstes beweist, daß sie sich nicht scheuen, ihn 
mit großen Unwahrheiten zu hintergehen, wenn sie einen so wahrheits— 
liebenden Mann bewegen, zu sagen, daß in Deutschland ein der 
katholischen Kirche feindlicher Geist einen Kampf angefacht habe. 
Der Papst ist der deutschen Sprache nicht mächtig, und die Deutschen, 
die sich besonders an ihn drängen, sind nicht Freunde Deutschlands. 
Kein Wunder, daß er nicht imstande ist, die Wahrheit dessen zu 
kontrollieren, was seine Ratgeber ihm sagen. Sind wir doch ge— 
wohnt, in dem uns benachbarten, in lebhaftem persönlichem und 
litterarischem Verkehre mit uns stehenden Frankreich die ärgsten Irr- 
tümer über Deutschland in den leitenden Kreisen wahrzunehmen. 
In Deutschland weiß jeder, der ein eignes Urteil hat, und wird 
jeder außer der Partei der Germania zugeben, daß die katholische 
Reaktion gegenüber einer der katholischen Kirche sehr freundlichen 
Regierung den Zank vom Zaune gebrochen hat. Gegen diese 
Reaktion, die jetzt durch den Mund des Papstes die oppositionellen 
Elemente in Irland, Polen, Holland anruft, hat jede Regierung 
in katholischen Ländern, haben die Regierungen von Portugal, 
Spanien, Belgien, Italien, Frankreich sich zu verteidigen wie gegen 
die revolutionäre Demokratie. In betreff Frankreichs bestätigt dies 
der Papst selbst; denn zu der Parteic, die vor dem Papste eine 
so große Furcht hat, muß doch wohl die französische Regierung 
gerechnet werden, die den Eifer der ultramontanen Deputierten 
gezügelt hat. Auch Frankreich ist eben römischen Politikern noch 
nicht katholisch genug, ein Land, das seit Jahrhunderten unter einer 
eifrigen päpstlichen Propaganda gestanden hat, durch die Blut- 
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