Full text: Tagebuchblätter. Zweiter Band. (2)

6. Mai 1877 Dreiundzwanzigstes Kapitel 435 
andre endlich, z. B. das Hauptorgan der öffentlichen Meinung einer 
kleinen Residenz, fanden, daß das Meiste, was wir gesagt hatten, 
ja längst bekannt sei. Wir müssen dem betreffenden Redakteur trotz 
des wenig liebenswürdigen Tones, in dem er uns abhandelt, die 
Gerechtigkeit widerfahren lassen, daß er mit seinem Urteil das Rich— 
tigste gesagt hat. 
„Mit andern Worten: wir erfreuen uns nicht der Fähigkeit, 
uns so dünn zu machen, daß wir durch Schlüssellöcher schlüpfen 
können, wir besitzen auch keine Tarnkappe, mit der wir imstande 
wären, ungesehen geheimen Vorgängen in uns sonst unnahbaren 
Sphären beizuwohnen, und wir haben endlich keinen hinkenden 
Teufel zur Verfügung, der für uns die Dächer der Paläste und 
Kasinos abhöbe. Wir haben nichts als ein ziemlich gutes Ge— 
dächtnis und die Gewohnheit, zu sammeln, und wir machen es auf 
den Gebieten der Presse und der Konversation ungefähr wie der 
Botaniker auf den hoch liegenden Wiesen und an den Sümpfen 
unter ihnen, wir suchen uns das Zerstreute säuberlich zusammen 
und sehen dann, wie es zu einander paßt und sich ergänzt. Wie 
wir jetzt zu unsrer Verwunderung erlebt haben, ist durch das Er— 
gebnis dieses doch recht einfachen Verfahrens der eine und der 
  
Artikels der Grenzboten vom 8. Mai aus Berlin schreiben: „Da die Enthüllungen 
der Grenzboten über die Friktionen, über die der Reichskanzler sich zu beklagen 
hat, noch immer die Aufmerksamkeit der Zeitungsleser beschäftigen und die Mög— 
lichkeit nicht ausgeschlossen ist, daß noch ein Brief nachfolge, so meine ich Ihnen 
nicht vorenthalten zu sollen, daß man in den Kreisen der hiesigen fortschrittlichen 
Reichstagsabgeordneten schon dem ersten Brief nach Inhalt und Form nicht den 
allergeringsten Wert beilegte und mit Verwunderung wahrnahm, wie Herr Wehren- 
pfennig, die Redakteure der Nationalzeitung und andre Nationalliberale von der 
Presse auf das ungeschickte Machwerk hineinfielen. Da alle pikanten Geschichten, 
auch die unwahrscheinlichsten, selbst unter ganz klugen Leuten ein gläubiges 
Publikum finden, so konnte der erste Aufsatz mit Sicherheit auf ein solches rechnen; 
der zweite läßt nun aber die Tendenz genauer erkennen; der Hofklatsch war nur 
vorauf geschickt, um das Reichsglockengeschäft im Interesse jener Koterien, die 
schon die riesigsten Summen für Preß= und Agitationszwecke contra Camphausen 
und unfre freihändlerische Zollpolitik nutzlos weggeworfen haben, in zweiter Auf- 
lage in Gang zu bringen. Man erzeigt der Produktion eines konsortialen Reptilien- 
fonds viel zu viel Ehre, wenn man sie mit irgend welchen Staatsmännerkreisen 
in Verbindung setzt.“ — In der That, eine höchst feine Nase, die das aus den 
Artikeln herausgewittert hatte! 
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